Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020

Tag 40: Ein angsteinflößender Auftrag

Meine selbstgeschneiderte Maske und ich machen Fortschritte. Ich entdecke die Langsamkeit, entschleunige mich in einem, mir bisher nicht bekannten Ausmaß, wenn ich an ihr arbeite. Sie wird mir sicher gute Dienste leisten – bei der nächsten Pandemie.
Ich gehe los – ein Provisorium will erworben werden. Die Schneiderin, bei der meine Freundin Kundin ist, hat recht ansprechende Masken in der Auslage liegen. Wir sind flüchtig miteinander bekannt, bei meinem letzten Besuch hat sie mich gefragt, wie es mir mit meinem Buch gehe. Es sei fertig, antwortete ich damals, allerdings fehle mir noch ein Verlag. »Schreiben Sie ein Zweites!«, meinte sie daraufhin, mit Hinweis auf das Lehrgeld, das ein jeder zu zahlen habe, etc. Sie ist Pragmatikerin, und, wie die meisten Pragmatiker, ein konsequenter Tatmensch. Wenn A passiert, dann mache B. Jammern bringt nix. Leistung zählt. Ich mag sie irgendwie.
Eine Maske ist schnell gefunden; ein nicht abgeholter Hut meiner Freundin wird mir (dessen Geschlecht ihn für Boten- und Chauffeurdienste prädestiniert) übergeben; Zeit für Small-Talk.
»Und? Schreiben Sie schon an ihrem zweiten Buch?« Oho, sie hat sich gemerkt, worüber wir beim letzten Mal geredet haben! Ich zögere. Hatte ich etwas missverstanden? War ihr seinerzeitiger Rat gar keiner gewesen, vielmehr eine Aufforderung, die ich ignoriert habe? Ich verweise unsicher auf die derzeitige Krise und mein Coronauten-Logbuch. Schon greife ich zu meiner Brieftasche, um eine Visitkarte zu zücken, mit der Adresse meiner Website, da erkenne ich – auch durch ihre Maske hindurch – wie sich ihre Mundwinkel bedrohlich senken: »Also nein, über diesen Mist brauchen Sie nichts schreiben,« ruft sie sichtlich verärgert aus, »das will niemand lesen! Schreiben Sie etwas Schönes!«
Ich weiche zurück, vor dem Abgrund, der sich unversehens unter mir aufgetan hat, zahle schleunigst und flüchte. »Etwas Schönes schreiben«, was, zum Teufel, soll ich damit anfangen? »Schreibe schön!?« Da erschieße ich mich lieber, bevor ich das in das Pflichtenbuch meines Schaffens eintrage. Und für den entsprechenden physischen Akt fehlt mir ohnehin das Talent: Meiner Handschrift zufolge bin ich Arzt. Martial geht mir durch den Kopf:

Du deklamierst schön, Prozesse führst du, Atticus, schön,
schöne Geschichten, schöne Gedichte machst du,
verfasst schön Mimen, Epigramme schön,
schön bist du als Philologe, schön als Astrologe,
und schön singst du und du tanzt, Atticus, schön,
schön bist du in der Lyrakunst, schön bist du in der Ballkunst.
Obgleich du nichts gut machst, aber alles schön machst,
willst du, dass ich dir sage, was du bist?
Du bist ein großer Dilettant![1]

So ist es. Der schöpferische Akt kennt nur richtig oder falsch, gut oder schlecht. Für alles Weitere bin ich nicht zuständig, will es nicht sein. Rezeption ist Glückssache. Eine Lektorin meines Buches sagte mir, in Bezug auf eine, inhaltlich recht harmlose Passage, sie habe diese als ekelerregend empfunden. Ich dankte ihr mit meinem strahlendsten Lächeln. Ich fand es schön, bei ihr die Emotionen geweckt zu haben, die ich erwecken wollte. Sie nicht.
Aber was sag’ ich der Schneiderin, wenn ich sie das nächste Mal sehe?

© Tom F. Lange, 2020


[1] Marcus Valerius Martialis. Epigramme, Buch II, 7. Aus: Martial. Epigramme. Übersetzt von Rudolf Helm. Artemis Verlags AG, Zürich 1957.