Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020

Tag 35: Die bestmögliche aller möglichen Welten

Am Vormittag des 1. November 1755, um 9. 40 h wurde die portugiesische Hauptstadt Lissabon von einem schweren Erdbeben getroffen; darauf folgende Brände und ein Tsunami zerstörten sie beinahe vollständig. Über 80% der Stadt lagen in Trümmern, die Zahl der Toten ist bis heute ungeklärt. Von den etwa 275.000 Einwohnern der Stadt starben mindestens 30.000, wenn nicht 100.000.
Dennoch war dieses Ereignis mehr als eine Naturkatastrophe, es erschütterte zugleich eine Weltanschauung: »Gott kann zwar alle möglichen Welten denken, aber doch nur die beste von ihnen wollen, denn mit seiner Vollkommenheit wäre es unverträglich, das weniger Vollkommene, oder wenn man will, das Böse zu tun. […] Er hat die beste aller Welten durch seine Weisheit erkannt, durch seine Güte erwählt und durch seine Macht verwirklicht.«[1] Der Leibnizsche Optimismus unterstützte die göttliche Weltordnung, für einen gläubigen Christen konnte – und durfte – es ohnehin keine andere geben.
Innerhalb dieses Denkens musste die Katastrophe als Strafe Gottes interpretiert werden. Zwingend, denn eine andere Erklärung, als Zufall etwa, wäre denkunmöglich gewesen. Aber wofür war Lissabon bestraft worden? Darauf wusste niemand eine Antwort. Selbst das lasterhafte Sodom, so lehrte es die Bibel, wäre verschont geblieben, wenn sich denn zehn Gottesfürchtige gefunden hätten. Im höchst katholischen Lissabon hatte man Schwierigkeiten, zehn Sünder aufzutreiben. Von der Aufrechterhaltung der göttlichen Weltordnung hing jedoch alles ab: Könige regierten von Gottes Gnaden; das Elend der Menschen war Gottes Wille, wenn auch beklagenswert, etc. »Die Vollkommenheit des Universums von einem einzigen Übel aus beurteilen zu wollen, hieße ein ganzes Gemälde von einem einzelnen Pinselstrich aus zu beurteilen,« notierte sogar die Lebensgefährtin Voltaires, Madame de Châtelet, zu dessen Ärger in ihren Institutions physiques.[2]
Die Ideen der »Herrschaft der Vernunft«, kurz Aufklärung genannt, waren zu diesem Zeitpunkt wohlbekannt. Diderots Enzyklopädie erschien erstmals 1752, Leibniz’ »Rechtfertigung Gottes« wurde eifrig diskutiert. Die Philosophen der Aufklärung stritten sich mit ihren Kollegen, mit Königen, Adeligen, Kirchenfürsten und Theologen; die große Masse der europäischen Bevölkerung berührte das freilich kaum. Das Erdbeben von Lissabon änderte alles. Die Nachricht hatte sich in der ganzen Welt verbreitet; plötzlich fragten sich auch Handwerker und Bauern, ob wirklich alles gottgewollt ist, was auf Erden passiert.
1759 erfolgte die Antwort, in Gestalt eines fiktiven, unerschütterlich optimistischen Metaphysikers, eines gewissen Dr. Pangloss. »Es ist erwiesen, dass die Dinge nicht anders sein können, als sie sind, denn da alles um eines Zwecks willen geschaffen ist, dient alles notwendigerweise dem besten Zweck. Bemerken Sie bitte, dass die Nasen geschaffen wurden, um Brillen zu tragen, so haben wir denn auch Brillen.«[3] Seine Gefährten, wie auch er selbst, werden in diesem Roman beraubt, gefoltert, unschuldig zum Tod verurteilt, gedemütigt und verprügelt – Dr. Pangloss hat damit kein Problem: Da wir in der bestmöglichen allen möglichen Welten leben, ist auch alles auf das Beste eingerichtet. Alles ist gut.
Das Erdbeben von Lissabon verhalf den Ideen der Aufklärung zu breiterer Wirksamkeit, es gab ihnen neuen Schwung, belebte die Diskussionen und inspirierte die Denker. Voltaires Candide oder Der Optimismus entlarvte Utopien und Heilslehren, nicht zuletzt den, der göttlichen Weltordnung zugrunde liegenden Zirkelschluss. Die Naturkatastrophe, der Zufall hatte die Welt verändert – ein Zufall wird sie vielleicht wieder verändern.
Der Markt regelt alles am besten, folglich ist die ökonomistische Welt, in der wir leben, die bestmögliche aller möglichen Welten. Haben wir wirklich Nasen, um Brillen zu tragen? Das Virus widerspricht. Es entlarvt den Zirkelschluss des Neoliberalismus. Der Markt regelt gar nichts. Überall dort, wo nach Herzenslust dereguliert, privatisiert und gewinnmaximiert wurde, trifft es die Menschen am schlimmsten. Aktienmärkte stürzen einfach ab, haben aber zugleich die Macht, nicht nur ihre Shareholder, sondern die ganze Welt in den Abgrund zu reissen.
Ist das die Herrschaft der Vernunft? Wenn ja, dann fürchte ich mich vor der Rückkehr in die »Normalität«. »Wir müssen unseren Garten bestellen«, heißt es am Ende von Candide.[4] Das wäre angebracht. Denn auch die Stadtväter von Lissabon waren letztendlich, nach wochenlanger Suche,  doch noch einiger »Ketzer« habhaft geworden, die sie öffentlich vorführen, foltern und verbrennen lassen konnten.

© Tom F. Lange, 2020


[1] Der Grundgedanke der Theozidee von Gottfried Wilhelm Leibniz. Aus Max von Boehn: Deutschland im 18. Jahrhundert. Band 2: Die Aufklärung. Askanischer Verlag, Berlin 1922,S. 23

[2] Georg Brandes. Voltaire. Erich Reiss Verlag, Berlin 1923, Band II, S. 179.

[3] Voltaire. Candide oder Der Optimismus. Diogenes Verlag, Zürich 1991, S. 8f.

[4] »Il faut cultiver notre jardin.« Voltaire. Candide. Letzter Satz.