Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020
Tag 33: Maskenball
Meine Maske ist eines dieser weiß-blauen Dinger, die man beim Betreten des Supermarkts in die Hand gedrückt bekommt. Sie nervt mich. Wenn ich kurz nach unten blicke, auf den Einkaufszettel oder nur zu stark ausatme, beschlagen meine Brillengläser und ich stehe, auch dank meiner immer zotteliger werdenden Frisur, wie der letzte Vollidiot da. Ich lasse mir nicht bei jedem Einkauf eine Neue in die Hand drücken, denn ich setze mir sie lieber daheim, vor einem Spiegel auf. Wenn ich sie im Supermarkt anlege, verheddern sich meine Haare in den Schlaufen; streiche ich erstere hinter die Ohren zurück, fliegt mir die Maske vom Kopf … Zorro hatte nie solche Probleme.
Aber Zorro hatte seine eigene Maske, schwarzes Seidentuch höchstwahrscheinlich, mit Silberfaden, oder so … Es reicht, denke ich, ich schneidere mir meine eigene Maske!
Etwas zum ersten Mal machen, ist immer eine Form von Selbsterkenntnis. Ich lerne mich neu kennen: Nachdem ich Nadel und Faden dem schwerfälligen Dirigat meiner allzu dicken und plumpen Finger unterworfen habe, nähe ich munter drauflos. »Geduldsfaden«, den Begriff muss ein Schneider erfunden haben, grüble ich. Ich mag ihn nicht. Mein Lieblingsbegriff ist »Sättigungsbeilage«. Geduld hingegen habe ich nicht, und fad ist mir auch so schon genug. Aber die zweite Naht ist früher fertig als gedacht; ich kann zur weiteren Verarbeitung des Tuchs schreiten. Der Zuschnitt, den ich mir überlegt habe, offenbart mir, dass die Anfertigung der Nähte so gut wie sinnlos war, da sie sich vor allem auf den Teilen befinden, die sowieso der Schere zum Opfer fallen. Wie sagte Konfuzius: »Lernen und nicht denken ist nichtig. Denken und nicht lernen ist ermüdend.«[1] Ich atme tief durch. Die Theaterwissenschaft, geht es mir durch den Kopf, nennt das »die Komik der individuellen Tragödie«. Was soll’s, so schlimm ist das auch wieder nicht. »Schau,« sagt mir mein philosophisches Ich, »das Leben meint es doch gut mit dir – es hat dich nie dazu verleitet, Schneider werden zu wollen«.
Ich nähe noch eine Zeitlang weiter, dann gehe ich einkaufen. Auf der Straße sehe ich immer mehr individuell Maskierte: Hunde- und Katzenschnauzen sehen mich an, herausgestreckte Zungen, Smileys … Petronius fällt mir ein:
Fahrendes Volk gibt ein lustiges Spiel:
der eine ist Vater, Sohn der zweite;
als reich gibt sich ein anderer aus.
Kaum aber sind mit dem Stück
die komischen Rollen zu Ende,
fällt die Maske,
es kehrt wieder das wahre Gesicht.«[2]
Wer inszeniert sich da, wie und warum, frage ich mich unwillkürlich. Wahrscheinlich erträgt es das Menschlein nicht, gleichgemacht zu werden, seine Individualität oder Identität verbergen zu müssen. Ich übrigens auch nicht. Das bedeutet aber auch, dass mir diese herausgestreckten Zungen etwas sagen wollen, dass sie etwas über ihre Trägerin oder ihren Träger verraten: Der eine gibt sich lachlustig, die andere mag Katzen oder fühlt sich mit ihnen verbunden … Interessant, denke ich, dem »wahren Gesicht« waren solche Statements bisher kaum abzulesen. Jetzt tragen die Menschen einen Teil ihres Wesens, ihrer Wünsche oder Sehnsüchte offen vor sich her. Weil sie verbergen müssen, was sie zeigen wollen, zeigen sie, was bislang verborgen war. Ihre Masken entlarven sie.
© Tom F. Lange, 2020
[1] Kung Futse. Gespräche (Lun Yü). Buch II, 15. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1921.
[2] Petronius, Satyrica, 80,9. Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 1983, 5. Auflage 2004.