Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020

Tag 21: Gesucht: Die positiven Aspekte

Einsamkeit wird als Strafe empfunden. Man wird zu ihr verurteilt, ist zu ihr verdammt, etc. Wir sind zur Zeit in ihr »wohnhaft«, wie Peter Weibel trefflich bemerkt.[1] Andererseits ist die Einsamkeit einer der erprobten Wege zur Weisheit. Die Abkehr von der menschlichen Gesellschaft, der Verzicht auf Ablenkungen jeglicher Art fördert bekanntlich die innere Reifung des Menschen, sie bringt ihn auf den Pfad jenes Gebotes, das seit über zweitausend Jahren geradezu von selbst zur Weisheit führt: Erkenne dich selbst. Na bitte! Dann kann es ja nicht mehr lange dauern, bis ich wahre Schätze an Weisheit heben werde. Oder doch nicht? Das Warten wird mir allmählich lang. Auch wenn ich nach mickrigen drei Wochen keine erschütternd neuen Erkenntnisse von mir erwarte, ein bisschen klüger hätte ich inzwischen schon werden können. Wo bleibt sie denn, meine Erleuchtung? Lebe ich denn nicht wie ein Eremit? Bin ich nicht enthaltsam genug? Oh je, letzteres wäre denkbar …
Positiv denken! Die Krise als Chance begreifen! Ja, gerne, aber wie denn? Für viele Menschen ist diese Krise eine, die ihre Existenz bedroht, die haben andere Sorgen. Aber selbst wenn das nicht der Fall ist, wo hat denn dieses Schlechte sein Gutes?  Ein Vertreter der österreichischen Geldwirtschaft drückte gleich zu Beginn der Lokal- und Geschäftsschließungen seine Hoffnung aus, dass diese einen positiven Selbstreinigungseffekt auf die Wirtschaft haben könnten. Mit manchen hat man gerne weniger Sozialkontakt.
Dennoch, ich könnte in mich gehen und mir ein Beispiel nehmen, etwa an dem Maler Théodore Géricault und seiner berühmten »Szene eines Schiffbruchs«, besser bekannt als »Floß der Medusa«. Das Bild entstand unter dem Eindruck des skandalösen Untergangs der gleichnamigen französischen Fregatte im Jahr 1816, die aufgrund der Inkompetenz ihrer Offiziere verloren gegangen war. Um sich besser auf seine Arbeit zu konzentrieren, und vor allem, um nicht in Versuchung zu geraten, auszugehen, rasierte sich Géricault seinen Kopf. Skizzen haben sich erhalten, die zeigen, was er nicht gemalt hat: das Auflaufen des Schiffes auf dem Riff, die Morde auf dem Rettungsfloß, den Kannibalismus ebendort, etc. Bis er das endgültige Sujet gefunden hatte und sein Gemälde vollenden konnte, dauerte es acht Monate. Selbst der vom Skandal nicht unberührt gebliebene Ludwig XVIII. stellte fest: »Monsieur Géricault, ihr Schiffbruch ist wahrlich kein Desaster.«[2]
Ausgehen kann ich sowieso nicht, und unabgelenkter als jetzt werde ich mein Leben lang nie wieder sein – hoffentlich! Ich könnte also, an den Schreibtisch angenagelt, endlich mein Opus Magnum aufs Papier werfen, mir – jetzt oder nie! – ewigen Ruhm nebst (längst fälliger) Unsterblichkeit erschreiben. Ja, eh! Sobald mir etwas eingefallen ist, gebe ich Bescheid.

© Tom F. Lange, 2020


[1] Peter Weibel. Virus, Viralität, Virtualität. Der Globalisierung geht die Luft aus. Der Standard. 5. 4. 2020. 07.00. https://www.derstandard.at/story/2000116482357/virus-viralitaet-virtualitaetder-globalisierung-geht-die-luft-aus

[2] Aus: Julian Barnes. A History of the World in 10 1/2 Chapters. (5. Shipwreck). Picador 1990.