Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im März 2020

Tag 16: Eine neue Normalität

Als Tom F. Lange eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einer ungeheuren Klopapierrolle verwandelt.
Das machte ihn im Haus sehr schnell beliebt. Anfangs hatte er noch Bedenken; es war ihm unangenehm, einen Teil von sich zu solch profanem Zweck herzugeben, andererseits reichte ein Blatt seiner neuen Daseinsform aus, um einen Zweipersonenhaushalt gut eine Woche lang zu versorgen. Und er hatte ja ohnehin abnehmen wollen. Seine Bewegungsfreiheit war jedoch stark eingeschränkt. Ein erstes Blatt hatte er sich an jenem Morgen gleich selbst abgerissen, als ihm seine neue Leiblichkeit bewußt geworden war und er sie panisch zu erfassen suchte. Wie spätere Messungen ergaben, entsprachen seine Proportionen der einer handelsüblichen Klopapierrolle, die exakt um den Faktor 10 vergrößert worden war. Er war 96 cm hoch, bei einem anfänglichen Durchmesser von etwa 120 cm. Seine einzige Gliedmaße, der einzige Körperteil, mit dem er noch etwas ergreifen konnte, war das jeweilige erste Blatt der Rolle, zu der er mutiert war. Aber auch dieses ihm verbliebene Werkzeug wurde umso kraftloser, je weiter er es entrollte. Und, als ob das nicht schon lästig genug gewesen wäre, in einem Punkt war er von normal dimensioniertem Klopapier nicht zu unterscheiden: Die Stärke der einzelnen Blätter, aus denen er jetzt bestand, war so geblieben, wie man sich das von derlei Papier erwartet. Ganz als ob jene höhere Macht, die seine Metamorphose bewirkt hatte, deren weitere Brauchbarkeit im Sinn gehabt hätte. Das blieb nicht unbemerkt.
Nachdem er sich unter titanischen Anstrengungen bis vor seine Wohnungstür gerollt hatte, auf der Suche nach Hilfe, entdeckten seine Retter die unzähligen Blätter, die ihm auf dem Weg dorthin verloren gegangen waren. »Verdammte Perforierung!« grübelte Tom F. Lange. Jegliche Aktion, die durch Druck oder Rollen bewerkstelligt werden konnte, war soweit kein Problem gewesen; alles, was Zugkraft erfordert hatte, ein verlustreiches Unterfangen. Seine Größe endete knapp unterhalb der Türklinken, daher musste er diese möglichst fest in den Griff eines seiner untauglichen Blätter bekommen und sie zu sich hinabziehen. Einen Schlüssel im Schloß herumzudrehen war beinahe unmöglich gewesen. Als er endlich auf den Gang vor seiner Wohnung geplumpst war, hatte es hinter ihm ausgesehen wie auf einem Schlachtfeld.
Seither kümmerten sich die Hausbewohner um ihn. Wenn man das kümmern nennen konnte. Sie hatten ihn zurück in sein Bett verfrachtet und nach seinen Bedürfnissen gefragt. Es stellte sich heraus, dass er keine mehr hatte. Er brauchte weder Nahrung noch Schlaf, nur eine etwas höhere Luftfeuchtigkeit. Für diese wurde gesorgt, unmittelbar nachdem seinen Betreuern die prinzipielle Verwendbarkeit der herumliegenden losen Blätter aufgefallen war. Eine mitfühlende Seele hatte ihm dann noch den Klobesen und die WC-Ente ins Schlafzimmer gestellt, das war’s.
Leider war er mit seinem neuen Dasein als Klopapierrolle auch deutlich blöder geworden, und – leicht zu manipulieren. Aber es machte ihm von Tag zu Tag weniger aus. Irgendetwas von der, seiner neuen Existenz innewohnenden Neigung zur Anpassung, etwas von dessen Duldsamkeit, eine, ihm bis vor kurzem fremde Harmoniesüchtigkeit, war auf ihn übergangen. Ob das mit dem Bärchenaufdruck in zartem Lila zu tun hatte, der seinen Leib schmückte? Oder damit, dass er immer dünner wurde? Es war den Hausbewohnern jedenfalls nicht schwergefallen, ihn davon zu überzeugen, dass er jetzt –  so wie alle anderen  – seinen Beitrag zu leisten habe.
Tom F. Lange hörte Schritte im Flur, ein weiterer seiner Wohltäter nahte: »Ah, san‘s daheim, Herr Lange, sehr brav … Na, is eh besser, in ihrem Zustand … Net auszudenken, wenn ma Se auf da Strassn sehn tadad … Luftbefeuchter hat noch genug Wasser? Bestens! … Wenn ich so frei sein darf, das übliche Blatterl … Is’ scho’ vorbei! Nix ham’s g’spürt, net wahr? … Alsdann, habe die Ehre, und g‘sund bleiben, gelln S’!«
»Wir müssen halt alle die Rolle akzeptieren, die uns vom Schicksal zugewiesen worden ist«, dachte Tom F. Lange und wälzte sich träge auf die Seite …

© Tom F. Lange, 2020