»Vor allem werfe ich aus jedem Satz alle überflüssigen Wörter hinaus. Das erfordert ein scharfes Auge, denn die Sprache weiß ihren Kehricht, die Wiederholungen, Synonyma oder einfach sinnlose Wendungen, geschickt zu verbergen und scheint in einem fort darauf aus zu sein, uns zu überlisten. (…) Wenn der Kehricht ausgefegt  ist, prüfe ich die Bilder, Vergleiche, Metaphern auf ihre Frische und Genauigkeit. Finde ich keinen passenden Vergleich, dann lasse ich ihn am besten ganz fort. Mag das Substantiv aus sich selbst, durch seine Einfachheit leben! Ein Vergleich muß genau sein wie ein Rechenschieber und natürlich wie der Geruch des Dills.«[1]

Man könnte es einen »Silberstreif am Horizont« nennen. Sollte man aber nicht, denn in sozialistischen Kreisen weckt diese Wendung immer noch unangenehme Erinnerungen. Nennen wir es lieber ein »Licht am Ende des Tunnels«; das Aufflackern einer Hoffnung auf baldige bessere Zeiten, zumal diese, wie es die Gulaschkanone unter den Sprachakrobaten[2] kürzlich verkündet hatte, offenbar viel früher kommen, als wir gedacht hätten. »Uff!«, dachte sich mancher an diesem denkwürdigen 13.10.2018, einem sonnigen Samstagnachmittag, »das Schlimmste haben wir hinter uns«. Denn der Kanzler selbst informierte uns darüber, dass seine Regierung nunmehr ihre »Reiseflughöhe erreicht habe«[3]. Das Volk reagierte mit spontanen Freudenkundgebungen: Auf dem Ballhausplatz tanzten junge Frauen mit Passanten Walzer, Gemeindebauten wurden fröhlich beflaggt, verkniffene Sozialisten-Münder öffneten ihre runzligen Lippen zur Anstimmung der »Internationalen«. Denn der Kurze selbst hatte ihnen das gesagt, was sie sobald nicht zu hoffen gewagt hätten: Diese Regierung hat ihren höchsten Punkt erreicht, demnächst kann’s nur noch abwärts gehen. Wann genau, wissen wir nicht, aber wir haben das Wort des Kanzlers, dass er bald nur noch eine Richtung kennen wird: nach unten. Oder hat er wieder einmal etwas anderes gemeint als er gesagt hat? Schwierig. Wir wissen, wie das ist, in der Fliegerei: Oben geblieben ist noch keiner, schon gar nicht die Überflieger. Weiß Sebastian Kurz, wie das ist, mit den Metaphern? Dass man sie nur dann verwenden sollte, wenn sie – vom Anfang bis zum Ende durchdacht – keine andere Schlussfolgerung zulassen als die intendierte? Es ist selten, dass eine Regierung ihren bevorstehenden Niedergang ankündigt, meistens kämpft sie doch gegen den Abstieg an oder will ihn nicht wahrhaben.
Und auch in anderer Hinsicht ist diese Metapher eine unglückliche. Über den Wolken, sang Reinhard Mey 1974,  muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen sagt man, blieben darunter verborgen. Und dann würde was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein. Politiker, die ihren eigenen Höhenflug preisen, übersehen, dass sie damit die Menschen unter sich zurücklassen, – und diese Distanz nur vergrößern, je höher sie ihrer Meinung nach steigen. Sebastian Kurz ist abgehoben, was unter den Wolken passiert, ist ihm längst nichtig und klein. »Die Fleißigen dürfen nicht die Dummen sein«, wird uns seit einer gefühlten Ewigkeit von der Kanzler-Kanzel herab gepredigt, bei der »Reiseflughöhe« hat man freilich den Eindruck, dass hier ein Dummer fleißig war.
Wie konnte es dazu kommen? Bastis sprachliches Unvermögen ist längst bekannt,[4] andererseits verfügt er mit Sicherheit über ganzes Bataillon von Redenschreibern. Ich, in meinem froschlich-schwachen Sehvermögen, dachte mir, ich frage die, die es am besten wissen muß, ich frage seine Muttersprache:
»Liebe Deutsche Sprache, wie kann es sein, dass ein amtierender Bundeskanzler, in einer bedeutsamen Rede eine derart unfreiwillig-komische, um nicht zu sagen peinliche Metapher verwendet?«
»Lassen Sie mich zunächst eines sagen. Wie jede Mutter liebe ich meine Kinder, was hingegen den Sebastian angeht, der hat mich in letzter Zeit zu oft gekränkt!«
»Ja, wie? Soll das heißen, Sie, seine eigene Muttersprache hatten etwas damit zu tun?«
»Zu tun haben, ist zu viel gesagt. Jedem von uns passiert einmal ein sprachlicher Schnitzer, darum geht’s nicht. Aber er fällt mir die längste Zeit nur noch unangenehm auf. Am Anfang dachte ich, er ist noch jung, man muß Milde walten lassen. Damit war dann irgendwann Schluss. Wenn er frei spricht – was selten vorkommt – stottert er wirres Zeug daher, wie ein Schuljunge, den man beim Nasenbohren erwischt hat. Wenn er seine Phrasen drischt, dann meist nur, um ehrenwerte Personen oder Institutionen auf das Hinterhältigste zu verleumden.[5] Er, der sich immer wehleidig darüber beschwert, dass man ihn »anpatze«, ist selbst der Meister dieser Disziplin. Als ich ihn dann dieser Tage beim Basteln seiner Rede erblickte, habe ich ihm diese dümmliche Metapher einfach in den Weg gelegt, wie zufällig, – aufgehoben hat er sie schon selber.« 
»Was!? Wie konnten Sie diesem, von Ihnen ohnehin schon derb gebeutelten jungen Mann auch noch vorsätzlich Schaden zufügen? Wo bleibt denn da ihre Mutterliebe? Wo Ihre mütterlichen Pflichten?«
»Ja, freilich! Die Mutter in die Pflicht nehmen, das könnte euch so passen! Und was ist mit den Sohnespflichten? Ehrt er mich denn? Benützt er mich nicht, für seine niederen Ziele? Achtet er denn auf eine präzise und fehlerfreie Ausdrucksweise? Hab’ ich denn keine Grammatik? Hat nicht eine Sprache Orthografie, Syntax, Semantik, Ausdruck, Stil? Und wenn er mich verwundet, blute ich dann nicht? Wenn er schwafelt, weine ich dann nicht? Wenn er mich schändet, leide ich dann nicht? Und wenn er mich beleidigt, soll ich mich dann nicht rächen?«
Ich hockte nach diesem Ausbruch noch eine Zeitlang wortlos da. So sehr ich auch erschüttert war, von dieser Kindesweglegung, mehr noch bewegte mich das gebrochene Herz der Mutter. Wie lange mochte sie mit sich gerungen haben, wieviele Tränen vergossen haben, bevor sie ihre Hoffnungen begraben und sich von ihrem eigenen Fleisch und Blut abwenden konnte? Ach, Mutterherz, duldsamer als du ist doch keines auf Erden!
Wie wird es nun weitergehen, mit diesem jungen Mann, der von seiner eigenen Muttersprache verstoßen wurde? Wie lange kann er sich noch mit auswendig gelernten Phrasen in der Luft halten? Wann folgt der Aufschlag auf dem harten Boden der Realität? Möge die Einjahres-Bilanz unseres Bundeskanzlers tatsächlich richtungsweisend gewesen sein.

© Tom F. Lange, 2018


[1] Der russische Journalist und Schriftsteller Isaak Babel (1894 – 1940) in Konstantin Paustowskijs Die Zeit der großen Erwartungen, Kapitel Eine Hundsarbeit. 1958. Aus: Konstantin Paustowskij. Erzählungen vom Leben, S. 729. Nymphenburger Verlagshandlung.1981. Die Ausgabe vereint drei der insgesamt sechs Bände der Lebenserinnerungen Paustowskijs.
[2] Siehe meine Artikel: Von Deutschkursen für Inländer, Teil 2,  11. 9. 2018 und Von den zwei Gesichtern des Ianuarius, 19. 1. 2018.
[3] ORF-Teletext, 13.10.2018, 13h 20: Kurz »Reiseflughöhe erreicht«.
Rund ein Jahr nach der Nationalratswahl, bei der die ÖVP das Kanzleramt zurückerobert hat, hat Regierungschef Kurz heute in Wien eine Rede mit Bilanz und Ausblick gehalten. (…) Heute sei die »Reiseflughöhe« erreicht, man sei mit vollem Tempo unterwegs, das Regierungsprogramm umzusetzen, …
[4] Siehe meine Artikel  Von den zwei Gesichtern des Ianuarius, 19.1.2018, Eilt-Meldung: Von Deutschkursen für Inländer, 31.1.2018, und Von Deutschkursen für Inländer, Teil 2, 11.9.2018 und die dazugehörigen Zitate und Quellenverweise.
[5] Zuletzt mit der unsäglichen Gleichstellung von NGOs mit Schleppern. Siehe www.derstandard.at, 14.10.2018: Kurz setzt Schlepper und Hilfs-NGOs faktisch gleich. https://derstandard.at/2000089290517/Kurz-setzt-Schlepper-und-Seenotretter-faktisch-gleich