Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) „begrüßt“ die Ankündigung, den Schutz von Flüchtlingen zu überprüfen. Die Überprüfung sei eine „Chance, Vorurteile und gezielte Falschinformationen über Österreich richtigzustellen“, teilte der Kanzler am Montag per Aussendung mit. Die „Lebensbedingungen für Migranten“ seien in Österreich „so gut (…) wie in kaum einem anderen Land der Welt“. Außerdem würden die Kontrolleure feststellen, dass Österreich „pro Kopf nach Schweden am zweitmeisten Menschen in Europa aufgenommen“ habe.[1]

Es hat ja so kommen müssen. Dort draußen, in der Welt der Menschen, ist wieder einmal etwas passiert, was selbst in meinem Tümpel Wellen schlägt. Einer, dem ich schon vor geraumer Zeit einen Deutschkurs für Inländer[2] nahegelegt habe, hat wieder zugeschlagen. Mögen viele meinen, dass die mangelnden Deutschkenntnisse unseres p.t. Bundeskanzlers unser geringstes Problem sind – hier schreibe ich, ich kann nicht anders.
Die Welt des Schreibens ist für mich ein Dorf. Es gibt dort unter anderem einen Spielplatz, auf dem ich mich nach Herzenslust austoben kann; ein Wirtshaus, in dessen bier- und rauchgeschwängerten Luft allabendlich die Welt gerettet wird; und einen Kampfplatz, auf dem ich postuliere, wie aus den Menshcen, dank meiner Führung, bessere Menschen werden. Es gibt dort auch einen Hain, in dem ich mit Claritas und Brevitas, den von mir imaginierten Töchtern der Kalliope[3] ringen kann, sofern mir gerade poetisch zumute ist. Gänzlich an einem Ort befinde ich mich nie; die meisten meiner Sandburgen haben einen harten Kern und meine Kampfschriften enthalten stets ein Körnchen Salz. Nur einen Platz gibt es, an dem ich mich, ganz egal, wo ich gerade schreibe, immer mit zumindest einer Arschbacke festgenagelt fühle: In der Dorfschule, kritisch beäugt von meiner dürren, graumausigen Deutschlehrerin, die immer dann, wenn ich die Grenzen dessen, was im Deutschen möglich ist, sträflich überschreite, ihr Rohrstaberl zückt und meine Sprechblase mit einem säuerlichen Lächeln zum Platzen bringt. Es versteht sich von selbst, dass ich sie liebe, auch wenn ich sie hasse.
Hätte Sebastian Kurz seine Wortschöpfung im Online-Duden nachgeschlagen, so wie ich es getan habe, dann wäre ihm mit der folgenden Meldung geholfen worden: »Leider haben wir zu Ihrer Suche nach ›zweitmeisten‹ keine Treffer gefunden.« Dem nicht genug, gleich darunter hätte ihm der Duden ein »Grundschul-Lexikon« empfohlen, mit Hinweis: »Entdecken – Verstehen – Mitmachen«, zum wohlfeilen Preis von euro 25,-. Meine graumausige Eminenz hätte das türkise Geschwurbel etwa wie folgt korrigiert: »Lieber Basti, wieso hast du nicht einfach ›… pro Kopf nach Schweden die meisten Menschen …‹ gesagt, das wäre immerhin Deutsch gewesen! Ich weiß natürlich, dass Politiker auch sprachlich situationselastisch sein müssen, aber deine Formulierung leidet nicht nur unter der Gewalt, die du damit deiner Muttersprache angetan hast, sie ist auch mißverständlich. So wie du das formuliert hast, › … nach Schweden am zweitmeisten …‹, muss man annehmen, Österreich befindet sich auf Platz Drei deines Migrantenaufnahme-Rankings, wobei du uns jenes Land, das nach Schweden die meisten Menschen aufgenommen hat, verschwiegen hast. Aber ich glaube, du wolltest uns etwas anderes sagen. Also, auch wenn es dir schwer fällt, denk’ in Zukunft ein bisserl mehr nach, bevor du den Mund aufmachst. Alles Liebe, deine Deutschlehrerin!«
Apropos schlechter Stil: es ist mittlerweile zum typischen Merkmal unserer Gulaschkanone unter den Sprachakrobaten[4] geworden, dass er zwar einer vorgeblichen Sachlichkeit das Wort redet, aber selbst auf das Untergriffigste austeilt, wenn irgendjemand seine Wohlfühlregentschaft in Frage stellt. So kommt auch bei der fundiertesten Kritik sofort der wehleidige Vorwurf des »Anpatzens« von ihm und damit gleich die erste Unterstellung, nämlich die der Verwendung eines dreckigen Arguments durch seinen Gegner. In Frankreich sagt man über einen besonders ruchlosen Heuchler und Blender »Il est tartuffe«, in Gedenken an die unsterbliche Figur Molieres; im Englischen gibt es den »hypocrite«, die deutsche Sprache hat leider nichts vergleichbares zu bieten. Aber vielleicht wird man auch in Österreich schon bald einen stärkeren Begriff zur Hand haben, wenn man einen Menschen, der ständig diffamiert oder heuchelt, bezeichnen möchte, und von ihm sagen: »Er ist sebastian!« Die Hoffnung auf diese Erweiterung des österreichischen Wortschatzes lebt, auch wenn sie vermutlich erst nach dem kurz’schen Interregnum Realität werden kann. Einer Hohen Kommissarin der UNO »gezielte Falschinformation« zu unterstellen, ist jedenfalls eine Frechheit, selbst wenn dies von einem gekommen wäre, der schon länger lange Hosen tragen darf als Herr Kurz. Was aber war denn die Falschinformation, die ihn so erregt hat? Michelle Bachelet hat keinen einzigen konkreten Vorwurf gegen Österreich erhoben. Sie hat angekündigt, den Schutz von Einwanderern in Österreich und Italien durch Teams überprüfen zu lassen. In Österreich sollen »jüngste Entwicklungen auf diesem Gebiet« bewertet werden. Wo ist da die Falschinformation? Wo das Vorurteil? Die Lösung ergibt sich aus der üblichen Vorgangsweise aller Rechtspopulisten: Die sattsam bekannte Schuldumkehr, in diesem Fall sogar noch bevor irgendeine konkrete Kritik geäußert wurde. Bevor noch irgendeine Überprüfung stattgefunden hat, bevor noch irgendeine Information am Tisch liegt, wird alles, was an Negativem gefunden werden könnte, bereits als gezielt falsch und/oder von Vorurteilen gelenkt, etikettiert. Dem folgte dann noch ein beleidigtes Räsonieren unseres Bundeskanzlers darüber, welchen Aufgaben sich die UNO-Menschenrechtskommission besser widmen sollte; die Unterstellung von möglicherweise in Zukunft fehlenden Ressourcen der UNO, wegen dieser angeblich unnötigen Überprüfung; und zuletzt ein Hinweis auf die Vergangenheit der Kommissarin in der »sozialistischen Internationalen«. Die »zweitmeisten« Menschen in unserem Land, und nicht nur diese, sehen’s mit Grausen.

© Tom F. Lange, 2018


[1] Quelle: UN prüft Migranten-Schutz, Kurz sieht „Chance“ und stichelt zurück. Kurier, 10. 9. 2018. Link: https://kurier.at/politik/inland/un-teams-sollen-schutz-von-immigranten-in-oesterreich-pruefen/400113485
[2] Siehe meinen Artikel: Eiltmeldung: Von Deutschkursen für Inländer. 31. 1. 2018
[3] Kalliope ist die Muse der Dichtkunst. Über den poetischen Grenzgang zwischen der claritas, der Klarheit, und der brevitas, der Kürze, siehe Horaz, De arte poetica, 24 ff.
[4] Siehe meinen Artikel: Von den zwei Gesichtern des Ianuarius. 19. 1. 2018