Lies des Mäoniers Sang, drin der Krieg der Frösche beschrieben,
dann entrunzle die Stirn auch für die Späße von mir![1]

Es ist mir zu Ohren gekommen, dass mich manche für eine Phantasiegestalt halten, für die Kopfgeburt eines trunksüchtigen Schreiberlings, der dieser Figur seine krausen Gedanken ins Maul legt und das man gut daran tut, diesem Gerede keine Beachtung zu schenken. Möge ein jeder nach seiner Façon glücklich werden! Ich begnüge mich damit, auf meinen verehrten Urahnen, den Gründer des Geschlechtes der Frösche mit der Brille hinzuweisen und auf das von ihm hinterlassene Manuskript aus dem Jahr 1263.
Es liegt heute in der Monastère des Grenouilles, im französischen Limousin, in dem berühmten Kloster, das jeder Frosch aber kein Mensch zu finden weiss. Es wurde Anfang des 13. Jahrhunderts erbaut, von den Gründern des Ordens der Schweigefrösche. Diese hatten einen Ort gesucht, an dem ihr Gelübde in besonderem Glanz erstrahlen konnte. In einem dichten Waldstück in Zentralfrankreich entdeckten sie schließlich einen kleinen Tümpel. An diesem Ort gab es weder Störche noch Schlangen, Marder und Füchse hatte lohnendere Beute im Überfluss, die Umgebung war menschenleer. Sie waren am Ziel ihrer Suche angelangt, an einem Platz, an dem sie durch keinen Feind und keine Gefahr zum Schweigen verpflichtet waren; an dem sie nach Herzenslust lärmen könnten, wann immer es ihnen in den Sinn käme. Dort ließen sie sich nieder. Fröhlich meißelten sie ihren Wahlspruch »C’est dure, mais ça va!«,[2] in den Felsen vor dem Eingang des Klosters und schwiegen fortan, zur höheren Ehre aller Frösche auf Erden.
Das Manuskript ist das älteste erhalten gebliebene Schriftwerk des Klosters. Mein Geschlecht hat es den Bemühungen der Schweigefrösche zu verdanken, dass dieses fragile Relikt bis auf den heutigen Tag von der langen Reihe unserer Vorfahren Zeugnis ablegen kann. Es handelt sich um einen Brief, festgehalten auf einem einzigen, strahlend weissen Blütenblatt einer Seerose, den sogenannten Nymphaei[3], von denen sich nur wenige erhalten haben. Mir, dem Nachfahren des Autors, wurde Zugang zum Original gewährt. Die unterirdische Kammer der Nymphaei ist nur durch einen langen Gang erreichbar, der von drei Türen unterbrochen wird. Diese sollen den ungehinderten Zufluss von feuchter Luft in das Nymphaeum unterbinden. In den ersten beiden Abschnitten geht man durch ein Spalier von Ordensbrüdern, die dort Wache halten. Auch sie bewegen ihre Zungen nur, um den Weg von Insekten, die sich in den Gang verirrt haben, zu beenden. Vor dem letzten Abschnitt des Ganges muss ein spezielles Schuhwerk übergezogen werde, denn ab diesem Punkt geht der Besucher über ein Bett aus reinstem Steinsalz, das regelmäßig ausgetauscht wird. Das erste, was einem beim Betreten der Kammer auffällt, ist ein Trippeln wie von hunderten winzigen Füßen. Ein Geräusch, das den Blick des Besuchers auf die Decke und die Wände der Kammer lenkt, die von dichten Netzen überzogen sind. Die letzten und zuverlässigsten Wächter der Nymphaei, die Spinnen der innersten Kammer, haben sich vor dem Licht zurückgezogen. Sie stehen seit Generationen im Dienst der Mönche, freilich, ohne dass sie selbst von der Aufgabe wüßten, die sie so vortrefflich erledigen. Ihr Sensorium hat sich in dieser Zeit beträchtlich verfeinert. Ihnen genügt eine winzige Änderung im Luftstrom, das leise Vibrieren eines Fadens im Netz oder das Knirschen eines Salzkornes und schon umschließen ihre Kiefer den Leib ihrer im Dunkeln umherirrenden Beute.
In der Kammer, deren strahlend weisses Salzbett nur wenig Beleuchtung braucht, lagern die Nymphaei in ihren Schatullen. Nur das härteste und jahrelang getrocknete Wurzelholz findet für diese Verwendung, sie werden mit Duftstoffen präpariert, um Freßschädlinge fernzuhalten und sind, einmal verschlossen, so gut wie luftdicht. Mit angehaltenem Atem erblickte ich das Manuskript meines Ahnen, als ich es endlich vor Augen hatte, wie es, auf feinstem Reis gebettet, vor mir lag. Noch bewunderte ich seine zierliche Handschrift, noch staunte ich über die Unversehrtheit des getrockneten Blütenblattes, da befahl mich die Hand des Bibliothekars auch schon wieder hinweg. Nicht kam es mir in den Sinn, die Strenge jener zu rügen, deren Sorgfalt mir diesen Anblick ermöglicht hatte.
Was aber stand in diesem Brief, der seine lange Reise in die Gegenwart unbeschadet überstanden hatte? Welche Botschaft ruft er uns zu, über den Abgrund der Zeit hinweg? Das Kloster, das man durch den Souvenirshop verlässt, betreibt einen schwungvollen Handel mit Faksimiles des Manuskriptes und selbstverständlich habe ich einige davon erworben. Die Worte, mit denen sich der erste Frosch mit der Brille der Welt zu erkennen gab, waren die folgenden:

Stets gütige und bezaubernde Prinzessin Dunkelauge,
keinem ist es gegeben zu entscheiden, ob Ihr denn gütiger seid als bezaubernd oder bezaubernder als gütig, und angesichts dieser Tatsache bin ich voller Hoffnung, dass Ihr es dem geringsten Eurer Untertanen verzeihen werdet, wenn er sich an Euch wendet, und Eure zweifellos wertvolle Zeit in Anspruch nimmt. Die Angelegenheit, derentwegen ich diese Zeilen an Euch richte, ist für mein Volk und auch für Euch, Lady Dunkelauge, von großer Dringlichkeit und Bedeutung. Verzeiht des weiteren, scharfsinnigste aller Prinzessinnen, wenn ich nun in meiner Rede aushole und vieles zur Sprache bringe, was Euch wohlbekannt sein wird,  aber Ihr sollt mich verstehen als Bittsteller von nicht geringer Geistesschärfe und Erfahrung, auch wenn Euch dies vielleicht seltsam erscheinen mag. Wohlan:
Jedes Kind kennt die Geschichte von der Prinzessin auf der Erbse und ich muss sagen, daß ist wirklich der größte Unsinn, der über Prinzessinnen verbreitet werden kann. Ich meine, wir wissen von Prinzessinnen, die wegen Steuerhinterziehung vor Gericht gestanden haben, aber welche Königstochter von einigermaßen klarem Verstand kümmert sich um Erbsen? Das zeigt nur wieder, daß die meisten Menschen heutzutage keine Ahnung von Prinzessinnen haben. Wenn es Prinzessinnen um irgendetwas geht, dann um ihren Prinzen. Einen, den sie ihrem Vater, dem König, zeigen können, ohne daß dieser den Auserwählten gleich enthaupten läßt. Denn die meisten sind tragische Opfer ihres Berufsstandes: Gut situiert, ausgestattet mit den teuersten Sportkutschen und einer großzügigen Apanage, umschwirrt von Verehrerinnen, haben sie keine Probleme, außer einem – das allerdings ist existentiell: Sie haben keine Probleme. Selbstverständlich sind da die Frauen und die Turniere, aber die hat man schnell über. Denn es gibt kein Turnier, bei dem man als Königssohn nicht schon vornherein als Sieger feststeht und nur wenige Frauen, die einem nicht jeden Wunsch erfüllen. Nun ist dies für einfache Gemüter (und von denen gibt es unter Prinzen mehr als genug, wie Ihr mir, Lady Dunkelauge, sicher bestätigen werdet) eine feine Sache. Sie leben in Saus und Braus, fühlen sich unglaublich gut dabei und werden umgehend vom Schwiegervater in spe enthauptet, sobald sie seiner Tochter zu nahe kommen. Prinzessinnen haben wirklich ernsthaftere Sorgen, als sich um Erbsen zu kümmern. Prinzessinnen stehen früh am Morgen auf und gehen spät schlafen, immer auf der Suche nach ihrem Prinzen. Die wenigen nennenswerten Exemplare sind leider sehr schwer zu finden. Aufgeweckt und abenteuerlustig wie sie sind, suchen sie stets neue Herausforderungen und dezimieren sich dabei auf besorgniserregende Weise. Die einen enden an den Klingen ihrer Kollegen, die anderen begeben sich auf absonderliche Missionen, wie zum Beispiel den gesamten Nahen Osten nach einem alten Becher abzusuchen, und dann gibt es noch jene, die meinen, zu alten Frauen mit Warzen auf der Nase frech sein zu müssen …
Von diesen, deren Zunge schneller war als ihr Verstand, muss ich reden, liebwerte Lady Dunkelauge, denn deren Schicksal betrifft Euch und unseren Tümpel. Ich bin mir dessen bewußt, mein Ansinnen könnte Eure holden Wangen röten, sie, die noch der Dichterworte harren, die ihrer würdig sind. Denn Eure Wangen erblühen nicht nur aus Scham, auch Freude oder Groll, Überraschung oder Ernüchterung röten sie so leicht, dass jeder gleich erkennen muss, welch zarte Seele sie beherbergen. Dennoch muss ich mein Begehren nun in Worte kleiden. Denn es gibt mittlerweile keinen Flecken mehr in unserem Tümpel, der nicht von diesen anstrengenden, wenn auch bedauernswerten Königssprösslingen besetzt wäre. Anstrengend? Oh, ja! Sie mögen vor ihrer Verwandlung ihre Qualitäten gehabt haben, bei uns haben sie mittlerweile den Status einer Landplage. Nichts, aber auch gar nichts passt ihnen: der Tümpel ist zu klein, das Essen ist widerlich, unsere Gesellschaft unerträglich und überhaupt komme nie Prinzessinnen vorbei … so jammern sie den ganzen Tag und gehen allen ausgiebigst auf die Nerven. Froschlich betrachtet, haben sie natürlich unser Mitleid, man stelle sich nur vor, als Frosch in einen Menschen verwandelt zu werden und darauf warten zu müssen, von einer Froschprinzessin geküsst zu werden … Wer je mit Froschprinzessinnen zu tun hatte, weiß, daß er da lange warten kann und besser gleich dem nächsten Storch ins Maul hüpft. Übrigens endeten die wenigen bekannten Fälle in denen ein in einen Menschen verwandelter Frosch das versucht hat, ebenso tragisch wie unfreiwillig komisch. Aber ich schweife ab. Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, gutherzigste aller Prinzessinnen, warum von so manchem Teich oder Tümpel plötzlich, wie aus heiterem Himmel ein infernalisches Gequake ertönt, daß einem die Fliegen aus dem Maul fallen könnten? Fragt nach Euren vorwitzigen Prinzen, und Ihr habt die Antwort! Der eine quakt, weil er glaubt, eine Prinzessin gesehen zu haben, der andere, weil er schon so lange keine mehr gesehen hat, und der Rest dieser verzogenen Bande macht natürlich jedesmal brav mit …
Genug davon, trotz allem sind jene, von denen hier die Rede ist, die Besten ihrer Art und deshalb muß etwas geschehen. Ihr müsst ja nicht jeden, dem Ihr seine frühere Gestalt zurückgegeben habt, gleich heiraten. Aber vielleicht findet sich einer unter ihnen, der Euch gefällt. Bis auf weiteres sehen wir jedenfalls davon ab, die Hexe zu bitten, die Herrschaften Prinzen in Fliegen zu verwandeln, vielmehr bitten wir Euch, mitfühlendste aller Prinzessinnen, doch so bald es Euch irgend möglich ist, zu uns zu kommen und Euch der lästigen Prinzen, die uns befallen haben, anzunehmen.

Hochachtungsvoll, Euer, Euch in tiefster Verehrung zugetane
Frosch mit der Brille, vom Tümpel am Waldesrand.

»Zu dumm«, seufzte die Prinzessin Dunkelauge, »wenn ich bloß wüsste, wie ich dem armen Frosch beibringen soll, daß ich nicht auf Männer stehe …«


[1] Martial, Epigrammata, XIV, 183 (Apophoreta). Übersetzung: Rudolf Helm, 1957.  Der »Mäonier« ist der Dichter Homer, dem nach seinem Tod ein Scherz-Epos namens »Froschmäusekrieg« zugeschrieben wurde.
[2] »Es ist hart, aber es geht!«
[3] Nymphaeus alba: Die weisse Seerose. Das weitaus haltbarere Mäusepergament war damals noch nicht üblich.