Der einzige Weg aus der Barbarei in die Dekadenz
führt über die Zivilisation.[1]

Vor eineinhalb Jahren kam es in unserem Tümpel zu einem rätselhaften Vorfall, der niemanden unberührt lassen sollte und auf das eifrigste bequakt wurde. Ob Blatt oder Stein, Wiese oder Tümpel, heimatlicher Bau oder abendliche Versammlung: das Rätsel füllte Münder, Ohren und Plätze; jederfrosch, jedefröschin postulierte, diskutierte und falsifizierte drauflos. Was war passiert? Ein junger Mensch, wohl in seinem zweiten Lebensjahrzehnt, war eines Tages direkt auf unseren Tümpel zugegangen, nicht sonderlich schnell, aber mit einem merkwürdigen, rechteckigen Ding vor den Augen, das er ohne Unterlass fixierte. Dieses blinkte, leuchtete und gab Geräusche von sich und beanspruchte die ganze Aufmerksamkeit des jungen Mannes. Unsere warnenden Zurufe erreichten ihn nicht, oder wurden von ihm nicht bemerkt, es kam, wie es kommen musste, er fiel – platsch! – kopfüber in den Tümpel. Soweit, so trivial. Dank unserer Jahrtausende währenden friedlichen Koexistenz mit den Menschen – Franzosen ausgenommen – sind sie uns keine unbekannten Wesen; und dass einer von ihnen in unseren Tümpel springt oder fällt, wäre, für sich genommen, nicht weiter beachtenswert gewesen. Was danach folgte, weckte allerdings unser Interesse. Der junge Mann hatte jenes Objekt, das seinen Unfall verursacht hatte, verloren, und, anstatt sich um sein eigenes Wohl zu kümmern, begann er sofort mit einer hektischen und immer verzweifelter wirkenden Suche nach diesem Ding. Nachdem seine ersten Versuche gescheitert waren, stapfte er endlich aus dem Wasser, aber begann schon kurz danach mit einer erneuten, systematischen Suche. Den Kopf vorgebeugt, bis zu den Oberschenkeln im Wasser, suchte er Quadratmeter um Quadratmeter jener Fläche ab, innerhalb derer er dieses Ding vermutete. Erst über eine Stunde später verließ er widerstrebend den Ort seines Verlustes, mit hängendem Kopf und von Gram gezeichneter Miene.
Was konnte das nur gewesen sein, was er verloren hatte? Warum hing das Herz dieses Menschen an diesem Ding, das ihn doch in Gefahr gebracht hatte, ihm geschadet hatte? Es musste irgendetwas uns bislang Unbekanntes sein, etwas, das unserem Blick aus dem Tümpel bisher entgangen war, aber möglicherweise von höchster Bedeutung für die Menschheit war. Der Zufall wollte es, dass ich dieses Ding am Grund des Tümpels entdecken sollte und sogleich mit einigen, der Sache dienlichen Untersuchungen beginnen konnte. Erstens, ich fand es leblos vor; möglicherweise unter Wasser nicht lebensfähig oder durch den Sturz verstummt. Zweitens: es war definitiv nicht essbar. Drittens, man konnte damit nicht Liebe machen. Diese Erkenntnis verdankten wir dem Bertl, den im darauffolgenden Frühjahr der Storch holen sollte. Er war in einem unbewachten Moment über das Ding hergefallen, doch blieben seine energischen Bemühungen, ob der Teilnahmslosigkeit und Unzugänglichkeit des Objektes seiner Begierde, ebenso wirkungs- wie erfolglos.
Da das Gerede in den folgenden Wochen nicht verstummen wollte, wurde das fragliche Ding schließlich der Quakademie der Wissenschaften übergeben, die umgehend eine Forschungskommission einsetzte, gebildet aus den hervorragendsten Gelehrten dieses Instituts. Diese arbeiteten zunächst einen Fragenkatalog aus:

1) Ist das Geschehene als repräsentativ für den heutigen Menschen zu bewerten? Oder handelt es bei dem Verhalten des jungen Mannes um einen bedauerlichen Einzelfall, etwa um eine individuelle Wertbeimessungsstörung, die keiner weiteren Untersuchung bedarf?
Für den Fall, dass ersteres zutrifft:
2) Handelt es sich bei diesem Ding um eine Sache oder ein Lebewesen? Ist sein Verstummen eine Funktionsstörung oder dem Ableben, etwa durch Ertrinken geschuldet?
3) In welcher Beziehung steht es zu dem heutigen Menschen? Erfüllt es einen erkennbaren Zweck? Steht es in sozialer Beziehung zum Menschen?
4) Ergeben sich aus der Klärung dieser Fragen irgendwelche Konsequenzen oder Gefahren für die Froschheit?

Die Gelehrten machten sich sofort ans Werk, zunächst sendeten sie Feldforscher aus, die gezielt nach Interaktionen zwischen dem Ding und dem Menschen Ausschau halten sollten. Unsere Späher kehrten nach etlichen Wochen zurück und legten ihre Beobachtungen der Kommission vor. Spannung lag in der Luft, die Froschheit schwieg gebannt. Dann die Verlautbarung: Ja, das Verhalten war repräsentativ! Alles weitere werde nach gründlicher Untersuchung, die noch wenigstens ein Jahr in Anspruch nehmen werde, veröffentlicht.
Letzte Woche war es dann endlich soweit. Die Untersuchungskommission der Quakademie der Wissenschaften lud zur Präsentation der Forschungsergebnisse ein, mit anschließender Diskussion der Ergebnisse. Der große Kuppelsaal war bis auf den letzten Platz gefüllt, man hätte den Flügel einer Stechmücke fallen hören können, als der Vorsitzende der Kommission, Alexander von Hupfoldt, an das Rednerpult trat: »Hohe Frösche und noble Hocker, Mitfröschinnen und -frösche. Meine Kollegen und ich waren sich der immensen Erwartungshaltung, die in uns gesetzt wurde, bewusst. Dennoch werden wir diese teilweise enttäuschen müssen. Manche Erkenntnis, manche zwingende Schlussfolgerung konnte zwar erarbeitet werden, in einer bestimmten Frage sahen wir uns jedoch ausserstande, eine eindeutige Antwort zu formulieren. Wissenschaftliche Redlichkeit bedingt Redlichkeit im Scheitern, sie steht über der Spekulation, von der dieser Bericht freibleiben sollte.
Die erste Frage, die wir uns stellten, ist bereits vor einiger Zeit beantwortet worden. Ja, das Verhalten dieses merkwürdigen jungen Mannes ist repräsentativ für die Menschheit gewesen, soweit sie von uns beobachtet werden konnte. Das fragliche Ding, von rechteckiger, flacher Form, einem kleinen Brett nicht unähnlich, wird von vielen Menschen mit sich geführt. Meistens hat es eine Größe, mit der es in eine menschliche Hand passt, zuweilen wurden auch größere Brettchen beobachtet, die eher von beiden Händen gehalten werden wollen, aber offenbar dem gleichen oder einem ähnlichen Zweck dienen. Vier von fünf Menschen halten, während sie sich in der Öffentlichkeit bewegen, derartige Bretter vor ihren Kopf, ihre Wahrnehmungsfähigkeiten werden dadurch massiv eingeschränkt. Entgegenkommende Menschen werden, wenn überhaupt, erst im letzten Moment beachtet, das gleiche gilt für Gefahren oder Hindernisse. Aber da sich der Mensch innerhalb seiner selbstgeschaffenen Habitate nur noch selbst ein Feind ist, hat dieses Verhalten keine ernsten Auswirkungen auf das Überleben seiner Population. Bedenklicher erscheint in diesem Zusammenhang, dass auch die sexuelle Interaktion durch diese Bretter behindert wird. Unsere Feldforscher haben unzählige Male beobachtet, wie junge, paarungswillige Männchen und Weibchen einander auf weniger als einen Meter nahekamen aber sich dennoch nicht den kleinsten Blick gönnten, sondern, die Augen fest auf das Ding in ihrer Hand gerichtet, unbeachtet aneinander vorübergingen. Welche Macht, fragte sich diese Kommission, angesichts solcher Verhaltensauffälligkeiten, hat dieses Ding über den Menschen, dass es imstande ist, einen so starken Trieb, wie den der Paarung zu unterdrücken? Was wird aus dem Menschengeschlecht, wenn es nur noch Augen für dieses Ding, nicht aber für den Partner hat, mit dem es das Leben sowohl erschaffen als auch feiern könnte?
Ich komme zur zweiten Frage, die uns gestellt wurde: Ist dieses Ding ein Objekt oder ein Subjekt, ein Gegenstand oder ein Lebewesen? Hierin ist sich die Kommission, abgesehen von einem votum separatum, das ich zu einem späteren Zeitpunkt ansprechen werde, einig: Es handelt sich um ein Lebewesen. Kein Gebrauchsgegenstand, kein Werkzeug könnte jemals eine derartige Bindung zu einer denkenden und fühlenden Kreatur erzeugen, sei sie nun Frosch oder Mensch, und derart viele Interaktionen auslösen wie diese ›Rectanguloiden‹, wie ich sie fortan nennen möchte. Mitfrösche und -fröschinnen! Man spricht nicht mit seinem Hammer oder seinem Schraubenzieher! Auch füttert man ihn nicht oder schützt ihn vor Nässe und Kälte, schon gar nicht nimmt man ihn überall hin mit und zeigt ihm die Sehenswürdigkeiten! Dieser Kommission liegen etliche Berichte vor, wie Menschen bemerkenswerte Anstrengungen vollführen, um ihren Schützlingen Bauwerke oder Geschehnisse aus einem vorteilhaften Blickwinkel zu zeigen, zugleich behandeln sie ihren Rectanguloiden dabei mit einer Achtsamkeit und Fürsorge, als ob er eines ihrer Jungen wäre. Wenn er Hunger hat, wird umgehend ein Futterplatz aufgesucht – die Rectanguloiden werden mittels dünner Schläuche ernährt, die mit den überall vorhandenen Ausgabestellen verbunden werden; wenn er schreit, wird besänftigend auf ihn eingeredet; manchmal auch zornig, wenn er zu oft oder zu unpassender Gelegenheit geschrieen hat. Wenn er still ist, wird regelmäßig nachgeschaut, ob er sich wohl befindet. Und das abgesehen von den vielen Stunden, in denen sich der Mensch ohnehin auf innigste Weise mit seinem Rectanguloiden beschäftigt, ihn still und reglos anstarrt, als ob die Welt um ihn herum nicht existierte.
Was den, in unseren Tümpel gefallenen Rectanguloiden zum Verstummen gebracht hat, wurde mit dem Gesagten bereits angedeutet. Es handelte sich um Tod durch Ertrinken, es konnte zweifelsfrei festgestellt werden, dass diese Lebensform äußerst empfindlich auf Wasser reagiert und unter Wasser nur wenige Sekunden überleben kann.
Ich komme jetzt zu dem Teil, in dem sich die Kommission nicht einigen konnte. Zu der Frage, in welcher Beziehung dieses Lebewesen zu den Menschen steht. In dieser Frage sind wir, die Untersuchenden, in zwei Lager gespalten. Das eine Lager hält die Rectanguloiden für Außerirdische, die daran arbeiten, die Menschheit zu versklaven; das andere Lager, zu dem ich mich zähle, hält sie für Parasiten, die sich erfolgreich beim Menschen eingenistet haben. Aber weder ich, noch meine verehrten Kollegen vom gegnerischen Lager können ihn ein Faktum oder Indiz nennen, das geeignet wäre, der eigenen Theorie den Vorzug zu geben. Beide erklären die beobachteten Fakten, ein Geheimnis bleibt der eigentliche Grund für diese rätselhaften Fixierung des Menschen auf seinen Rectanguloiden. Meine Fraktion denkt an Pheromone, die diese Parasiten verströmen und damit ihren Wirt willenlos machen; unsere Gegner wenden ein, dass eine höhere Species ihre Mittel und Wege hat, eine niedrigere zu manipulieren, etwa durch Hypnose. Auch wäre diese Art der Unterwerfung eine äußerst elegante, da sie von den Unterworfenen gar nicht bemerkt wird. In einem anderen Punkt sind wir uns einig: In der Zeit, in der der Mensch wie betäubt auf seinen Rectanguloiden fixiert ist, findet die Manipulation statt. Wie, wissen wir nicht. Fest steht, der Mensch kommuniziert mit seinem Rectanguloiden währenddessen durch Klopfzeichen, die sichtlich beantwortet werden. Der Gegenstand dieser Erörterungen ist uns ebenfalls bekannt. Es sind die trivialsten Fragen des Daseins! Kein noch so alltägliches Unterfangen wird begonnen, bevor nicht der Rectanguloide um Rat befragt worden wäre! Der Mensch, dessen hervorragendste Eigenschaft es bisher gewesen ist, Antworten zu finden, sucht sie nicht länger, sondern läßt sie sich geben. Er hat seinen kritischen Geist an eine fremde Lebensform delegiert; eine erschütternde Erkenntnis, denn das bedeutet, dass der Mensch im Begriff ist, seine Fähigkeit zum selbständigen Denken zu verlieren!
Ich komme zur letzten Frage, die dieser Kommission vorgelegt wurde: Besteht Gefahr für die Froschheit? Dies kann entschieden verneint werden. Abgesehen von Unfällen, wie jenem, der auslösend für die Untersuchung war, sind die Rectanguloiden keine Bedrohung für unseren oder einen anderen Tümpel. Im Gegenteil, die  durch sie bewirkte eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen kann für uns Frösche nur von Vorteil sein. Wenn sie eine Gefahr darstellen, dann für die Menschen. Unsere Feldforscher haben von weiteren besorgniserrregenden Änderungen im Sozialverhalten berichtet. Beispielsweise suchen die Menschen zwar noch immer ihre Versammlungsorte auf, aber immer mehr von ihnen interagieren nicht länger miteinander, sondern nur noch mit ihrem persönlichen Rectanguloiden. Bedenklich erscheint mir auch der Umstand, dass die Rectanguoiden in den Händen von immer jüngeren Menschen entdeckt werden; ein Faktum, aufgrund dessen ich Anhänger der parasitären Theorie bin.
Abschließend sehe ich mich gezwungen, näher auf das erwähnte votum separatum einzugehen. Gerne hätte ich vermieden, dass der Schatten der Unwissenschaftlichkeit auf diesen Bericht fällt; bedauerlicherweise war ein Mitglied dieses Gremiums der argumentativen Kraft der Logik nicht zugänglich, und hat vielmehr auf der Publikation seiner, durch kein Sachargument gestützten Theorie beharrt. Laut Dr. Quagrobius sind sämtliche Erkenntnisse, die von dieser Kommission erarbeitet wurden, ›keine Schmeißfliege wert‹. Seiner Meinung nach sind die Rectanguloiden mitnichten Außerirdische oder Parasiten, sondern Instrumente, Werkzeuge, die sowohl der zwischenmenschlichen Kommunikation als auch der Wissensvermehrung dienen! Dr. Quagrobius schwebt eine Art von fernmündlicher Kommunikation vor, für die er allerdings nicht den kleinsten Anhaltspunkt vorlegen konnte. Nun bin ich zwar, aufgrund der Statuten dieses Hauses verpflichtet, diese Meinung, die von keinem anderem Kommissionsmitglied geteilt wird, vorzutragen, aber wahrlich nicht, sie gutzuheissen. Gestatten sie mir dazu einige Fragen: Zunächst einmal, warum sollte jemand, der kaum ein Wort mit seinen Artgenossen wechselt, sie auf jede erdenkliche Weise ignoriert, der also erwiesenermaßen kommunikationsunwillig ist, ein Kommunikationswerkzeug benützen? Und sollten wir es tatsächlich mit einem Werkzeug zu tun haben, dann müsste dieses doch den Zweck, den es angeblich hat, erfüllen, da es sonst nicht benützt würde. Die weite Verbreitung und Beliebtheit des Untersuchungsgegenstandes konnte, wie berichtet, über jeden Zweifel erhaben bewiesen werden. Ist es also ein Werkzeug, wie Dr. Quagrobius uns einreden will, dann müsste eine Verbesserung in der zwischenmenschlichen Kommunikation und eine Zunahme des Wissens unter den Menschen feststellbar sein. Das glatte Gegenteil, verehrtes Auditorium, ist der Fall. Gerade jene Menschen, die dieses sogenannte Werkzeug häufig benützen, verhalten sich besonders ungesellig und denkfaul. Sie sind sich selbst genug; die wenigen Fragen, die in ihrem, von Unterforderung verkümmerten Verstand noch aufflackern, werden umgehend in ihr Brettchen geklopft; und diesem vertrauen sie blind. Wie erklärt es mein Kollege, dass seine, von ihm imaginierten Geistesriesen gegen Glastüren rennen oder in ihre Artgenossen hinein? Dass sie ihr Werkzeug fragen müssen: ›Wo bin ich?‹ oder gar ›Was soll ich essen?‹ Warum bringen, die von ihrem Wissensvermehrer Erleuchteten kaum geistreichere Wortspenden hervor, als ›fein‹ oder ›heiss‹ oder ›geil‹? Bei meiner Liebe zum Widerspruch! Wer sich weigert, die Unlogik dieses votum separatum anzuerkennen, wird wohl selbst bald einen Rectanguloiden nötig haben!
Verehrtes Auditorium, ich komme zum Schluss: Für die Froschheit besteht keinerlei Gefahr durch die Rectanguloiden. Dennoch sollten wir die Mahnung, die in dem traurigen Abhängigkeitsverhältnis der Menschheit enthalten ist, beherzigen. Eine Macht, die imstande ist, den Menschen von seinem bisherigen normalen, sinnerfüllten und sinnesfreudigen Leben abzubringen, gibt Anlass zu höchster Sorge. Umso mehr, als uns die eigentliche Ursache unbekannt ist. Bleiben wir wachsam, untersuchen wir die Sache weiter, auf dass es uns nicht eines Tages so ergehe wie den Menschen. Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.«

© Tom F. Lange, 2018


[1] Claude Lelouch. Die Entführer lassen grüßen. Frankreich, Italien, 1972. Originaltitel: L’aventure, c’est l’aventure.