»Is ja nicht, is ja nicht bös gemeint, ich nehme nur, ich nehme nur,
also verstehe die Frage.«[1]

Der erste Monat im Jahr hat seinen Namen von dem etruskischen Gott Ianus. Den ihm gewidmeten Monat nannte man Ianuarius, »dem Ianus zugehörig«. Er ist der Gott des Anfangs, der zugleich zurück und nach vorne schaut. Mit seinen zwei Gesichtern sieht er den Ursprung der Dinge und alles, was sich aus diesem ergeben hat. Er sieht auf einen Blick, was hinter uns und was vor uns liegt. Diese Eigenschaft macht ihn auch zum Hüter aller Tore und Durchgänge, und er steht, im übertragenen Sinn auf der Schwelle von Ereignissen und Entscheidungen, in die er, gegebenenfalls, eingreift. Seit der julianischen Kalenderreform sitzt der Pförtner Ianus im Durchgang zum Neuen Jahr und blickt uns Passanten fragend an: »Deine guten Vorsätze kenne ich, ich habe aber auch gesehen, was du im letzten Jahr getan hast. Ein Beispiel, wenn du dich erinnerst: Als dein Bäcker den Preis für eine Handsemmel um zehn Cent erhöht hatte – ohne Vorwarnung! –, musstest du dir natürlich einen neuen suchen. Das versteht sich von selbst, und – ich muss sagen – dein Auswahlverfahren und die, deiner letztendlichen Entscheidung zugrunde liegenden Kriterien haben mich beeindruckt. Klar, eine Semmel muss bei dir erstens einmal perfekt und zweitens billig sein, darunter geht gar nichts; aber drittens muss sie bei dir biologisch sein, viertens nachhaltig und fair produziert worden sein; fünftens aus einem sympathisch anmutenden Familienbetrieb stammen, der sechstens schwulen-, lesben- und ausländerfreundlich, sowie frauenrespektierend zu sein hat. Siebentens hat der Bäcker oder die Bäckerin ein vorzeigbares Sortiment an Emmer-, Einkorn- und Dinkelbroten zu führen – nicht, dass du so etwas fressen würdest – es geht vielmehr um deren potentiell mögliches Vorhandensein in deinem leinernen Einkaufsackerl. Es könnte dich ja jemand sehen, beim Verlassen der Bäckerei. Achtens – denn Heuchler und Blender sind dir verhasst – sollte dein Bäcker mit einem gewissen Idealismus agieren, er sollte in seinem Beruf aufgehen, und nicht, wie du es vor deinen Freunden so treffend zu formulieren verstehst, ›nur zum Broterwerb Brot verkaufen‹. Soviel zu deinen Kriterien. Nach gut drei Monaten hattest du deinen neuen Bäcker gewählt und ich gratuliere dir dazu. Du hast strenge Maßstäbe angewendet, hast dich nicht beirren lassen und, nach Abwägung aller Für und Wider (der mit dem Migrationshintergrund war leider Antisemit) eine gute, rationale Wahl getroffen. Natürlich hat dein neuer Bäcker nicht alle deine Kriterien erfüllen können, aber als mündiger Staatsbürger weisst du, dass es die ideale Semmel nicht gibt und hast dich deshalb pragmatisch für die bestmögliche unter den vorhandenen Semmeln entschieden. Bravo, mein Lieber, wohlgetan! Nur eine Frage habe ich an dich, wenn du gestattest: War da letztes Jahr nicht noch eine andere Wahl?«
Wer sich dem kritischen Blick des Ianus aussetzt, lernt Selbstreflexion und wird zu Konsequenz im eigenen Handeln aufgefordert. Deshalb ist es gut, zum Jahreswechsel einmal selbst Ianus zu sein. Blicken wir zurück und zugleich nach vorn. Was haben wir getan, was wollen wir tun? Was soll im Neuen Jahr geschehen? Haben wir vielleicht selbst mit etwas angefangen, das wir besser nicht getan hätten? Haben wir die Aufsicht über das weihnachtliche Fischbuffet der Katze übertragen und uns dann darüber beschwert, auf welch empörende Weise sie die ihr übertragene Verantwortung missbraucht hat? Nicht? Sicher nicht? Aber einen stotternden Jüngling, der außer seinen Phrasen kaum einen geraden deutschen Satz herausbringt, den haben wir vielleicht schon gewählt.[2] Dieser Tage, da sich der Ianuarius seinem Ende zuneigt, werden erste Stimmen laut, von den Menschen, die diese Gulaschkanone unter den Sprachakrobaten gewählt haben und sich jetzt beschweren, dass er genau das umsetzt, was er die ganze Zeit im Wahlkampf angekündigt hat. »Aber ich habe ja nicht wissen können, dass es so schlimm wird«, hört man da, oder »ich habe ihn doch nur gewählt, weil er so cool ist«. Ianus lacht, denn er sieht den Anfang, der darin besteht, dass es seit einigen Jahren just die Wahlen der Volksvertreter sind, die immer weniger von Vernunftkriterien bestimmt werden. »Er redet zur Sache und vermeidet Gemeinplätze?« – »Was für ein Langweiler!« »Sie hat einen Universitätsabschluss?« – »Unwählbar, diese elitäre Zicke!« »Er ist Experte?« – »Prügelt ihn mit einem nassen Fetzen aus dem Saal!« Stattdessen sind die Clowns gefragt, die Blender und Sprücheklopfer. Ianus lacht. Er sieht uns Menschlein, wie wir die unwichtigsten Fragen erst nach kritischer Betrachtung aller Aspekte beantworten, die wichtigsten hingegen mit der größten Leichtfertigkeit. Deshalb befördert er uns auch mit einem Tritt in den Hintern in das Neue Jahr.

© Tom F. Lange, 2018


[1] Sebastian Kurz im ORF-Sommergespräch mit Tarek Leitner. Quelle: KURIER, Online-Ausgabe, 29.08.2017. Phillip Wihelmer: Kurz im Sommergespräch: »Ich wollt sie grad beantworten«.
https://kurier.at/kultur/kurz-im-sommergespraech-ich-wollt-sie-grad-beantworten/283.290.380
[2] Zuweilen verheddert sich dieser sogar in seinen eigenen Floskeln. Ein aktuelles Beispiel: ZDF-Morgenmagazin, 18.01.2018: Befragt nach seiner Abgrenzung gegenüber Rechtsextremen verwies Sebstian Kurz auf das Verbotsgesetz in Österreich. Die Grenze sei das Strafrecht, »darüber hinaus gibt es so was wie Meinungsfreiheit.« Darüber hinaus? Das Recht auf freie Meinungsäußerung steht demnach über dem Verbotsgesetz? Das wird so manchem Schmißgesicht Tränen der Rührung ins Gesicht treiben. Quelle: ORF-Teletext, 18.01.2018, 12.03 Uhr.