Nichts froschliches ist mir fremd. 1

Ich weiß, ihr Menschen haltet uns Frösche für dumm. Das ist zum Teil üble Nachrede, teils haben wir uns das selber eingebrockt, leider. Wenn wir am Abend zusammen-kommen, um über die relevanten Fragen des Froschseins zu diskutieren – oder über die kürzlich abgehaltene Nationalratswahl, die nicht einmal unseren Pfuhl unberührt gelassen hatte –, dann schwellen unsere Gespräche schnell zu einem vielstimmigen Konzert, um nicht zu sagen, zu einer Kakophonie an. Keiner hört dem anderen mehr zu, jeder quakt so laut er kann. Jedem geht es nur darum, die anderen zu übertönen, gleichgültig welchen Standpunkt diese auch vertreten mögen. Ob wir uns widersprechen oder gleicher Meinung sind, spielt keine Rolle. Wir hören es sowieso nicht. Dabei kann natürlich nichts Vernünftiges herausgekommen. Ich meide diese Treffen so gut ich kann, auch wenn sich meine Froschnatur nach ihnen sehnt und ich diesem Drang zuweilen nicht widerstehen kann.

Aber, und das wisst ihr Menschen nicht: Frösche haben ein natürliches Talent für die Philosophie. Es liegt in unserer Natur. Als Amphibien verstehen wir es, Spiegelungen und Lichtbrechungen aller Art zu entschlüsseln. Außer dem Bertl freilich, den im letzten Frühling der Reiher geholt hat, der konnte das nicht. Aber der hat sich manchmal sogar mit einem Weibchen verwechselt, wenn er ins Wasser geschaut hat. Ein klassischer Fall von mangelnder Selbstreflexion. Normalerweise lassen wir uns nicht so leicht von unseren Sinnen täuschen. Wir blicken hinter den Schein, den uns die Welt präsentiert und erkennen deshalb die Welt, wie sie ist. Und dieser Welt zeigen wir uns so, wie sie uns sehen soll. Wir sind Meister der Tarnung und Täuschung. Das sichert unser Überleben. Mal sind wir ein Blatt, mal ein Erdklumpen; wir stellen unsere eigene Existenz permanent in Frage. Denn ein Frosch, der sich nicht selbst erkennt, ist ein toter Frosch.

Mein Blick auf die Menschen, wie ich ihn pflege – gebrochen, schräg von unten, aus meinem trüben, schlammigen Tümpel – hat viele Vorteile: Die individuellen Unterschiede zwischen den Menschen verschwimmen, sie wirken auf mich alle gleich: ob sie nun dick oder dünn, jung oder alt, arm oder reich sind. Selbst einer, der kurz ist, wirkt auf mich erhaben und selbst wenn er nur einen dünnen Schatten wirft, erscheint er mir doch mächtig. Das liegt nicht nur an der Perspektive, sondern auch am Größenunterschied. Unsereins kennt diesbezüglich nur die Kategorien »größer«, »viel größer« und »riesig«. Menschen sind riesig, wie Rindviecher. Größer als »riesig« gibt es bei uns nicht. Wofür auch? Ob wir von einem Kalb oder einem Ochsen zertrampelt werden, macht keinen Unterschied. Aber da ich die Menschen weniger als Individuen, sondern vielmehr als Ganzes, als Menschheit betrachte, fällt es mir leichter, sie mit der Froschheit zu vergleichen und meine Lehre darauf aufzubauen: An des Frosches Wesen soll der Mensch genesen. 2 Etwa mit der Fabel Die Frösche und ihr König, die ich zwar schon in meinem Monumentalwerk Die quakende Wissenschaft erwähnt habe, der ich aber jetzt, aus gegebenem Anlass, mehr Platz einräumen möchte. Wer sie ursprünglich erfunden hat, weiß man nicht. Wie jeder andere Fabeldichter vor mir habe ich sie ein wenig verändert: meinem Anliegen angepasst, in meine Worte gekleidet. Als Grundlage diente mir die Version des antiken römischen Dichters Phaedrus 3, den ich sehr verehre, obwohl er uns Frösche oft geschmäht hat.

Einst lebten wir Frösche unbekümmert in unserem Tümpel. Doch eines Tages stellten wir fest, dass wir, im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen, keinen König hatten. Die Vögel hatten den Adler als Herrscher, die Raubtiere den Löwen, die Meeresbewohner den mächtigen Wal. Nur uns hatte man einen König vorenthalten, vielleicht waren wir deswegen so sittenlos geworden. Laut quakten wir zu Iuppiter über diese Ungerechtigkeit. Der lachte schallend über unseren Wunsch, aber wir ließen uns nicht beirren und quakten weiter. Da fand Iuppiter ein Stück von einem Holzbalken, das bei Bauarbeiten auf dem Olymp übriggeblieben war. »Da habt ihr euren König und jetzt gebt Ruh’!«, rief er und warf den Balken aus der lichten Höhe seines Sitzes hinab in unseren kleinen Tümpel. Platschend schlug das schwere Holz im Wasser auf, die Wellen stürzten über uns zusammen, wir flüchteten in den Schlamm und wagten uns lange nicht hervor. Dann hob einer von uns seinen Kopf aus dem arg getrübten Wasser und spähte unseren König aus. Er schwamm zu ihm hin, hüpfte auf ihn drauf und fand das ganz wunderbar. Er rief uns andere, wir hüpften alle auf den Balken und stellten gemeinsam fest: Dieser König kann was! Man kann sich im Trockenen auf ihm sonnen und ist dennoch vor dem Storch in Sicherheit; man kann ins Wasser hüpfen, wann man will; selbst Insekten fliegen einem fast von selbst ins Maul. Vergnügt hüpften wir auf unserem König herum, solange bis wir ihn über und über besudelt hatten. Da gefiel er uns nicht mehr und es wurde uns schlagartig bewusst, wie unsympathisch uns dieser Klotz von Anfang an gewesen war. Also quakten wir zu Iuppiter um einen neuen König – der alte sei nicht länger brauchbar. Iuppiter, gestört vom neuerlichen Gequake, packte eine Wasserschlange und schmiss sie flugs zu uns herunter. Die brachte uns zum Schweigen mit ihrem scharfen Zahn. Gut die Hälfte von uns wurde gefressen, bevor ihre Jagdlust endlich einmal erlahmte. Da quakten wir erneut und lauter als je zuvor zu Iuppiter, fragten flehentlich: »Warum?! Warum hast du uns so gestraft, mit diesem bösen König?« Da gab der Gott zur Antwort: »Das Gute wolltet ihr nicht ertragen, ertragt also fortan das Böse.«

1 Der Frosch mit der Brille. Die quakende Wissenschaft, V, 8, 27.

2 Der Frosch mit der Brille. Die quakende Wissenschaft, VIII, 3, 14.

3 Phaedrus. Fabulae, I, 2. Verwendete Ausgabe: Phaedrus. Fabeln. Herausgegeben und übersetzt von Eberhard Oberg. Artemis & Winkler, 1999. Der Fabeldichter Phaedrus lebte und wirkte im 1. Jahrhundert n. Chr. in Rom. Er selbst bezieht sich oft auf seinen legendären Vorgänger Aesop, dem Autor oder Herausgeber einer griechischen Fabelsammlung. Aesops und Phaedrus’ Werken war ein langes Nachleben beschieden: La Fontaine verwertete sie ab dem Jahr 1668 für sein großes Werk Fables, 1794 übernimmt Johann Wolfgang Goethe einige Fabeln des Phaedrus für sein Epos Reineke Fuchs.

© Tom F. Lange, 2017