Satyrisch-satirische Betrachtungen einer Amphibie von schwacher Sehschärfe

Es war einmal ein Frosch. Der lebte an einem schlammigen Tümpel und betrachtete die Welt. Meistens musste er dabei – als der Laubfrosch, der er war – hoch nach oben schauen, aber das störte ihn nicht. Es war seine natürliche Perspektive. Schräg von unten blinzelte er nach oben – zuweilen in der Sicht behindert, durch Schilf, Schlammspritzer auf der Brille oder herumschwirrende Insekten. Der Frosch mit der Brille quakte gerne und er quakte viel, und da er nicht gestorben ist, quakt er noch heute: Immer dann, wenn etwas geschieht, das selbst in seinem Tümpel Wellen schlägt. Viel Spaß beim Lesen!

Archiv

Wir Coronauten. Logbuch-Eintrag Nr. 1

Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen, aktuellen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – alle zwei, spätestens drei Tage erscheinen sollen. Tom F. Lange, im März 2020

Tag 7: Mein Corona

Mein Corona ist die Stille, die plötzlich lastend geworden ist. Sie hat mich früher nie gestört. Das Schreiben ist ein einsames Geschäft, für mich zumindest. Ich kann weder in Gesellschaft, noch mit irgendeiner Hintergrundberieselung schreiben, insofern hat sich für mich nicht viel geändert. Natürlich bin ich ab und zu ausgegangen, habe Freunde getroffen, aber ansonsten war ich mir, oder vielmehr war mir meine Welt, in die ich mich schreibend begeben konnte, genug. Jetzt ertappe ich mich dabei, belanglose Textnachrichten zu versenden, offensichtlich – so peinlich das ist – in der Hoffnung auf Antwort. Wahrscheinlich bin ich doch lieber ein glückliches Schwein als ein unzufriedener Sokrates.[1]
Mein Corona ist eine freundliche Supermarktkassiererin. Sie sitzt im Ground Zero aller unserer, mit jedem Tag stärker werdenden Unzulänglichkeiten und Neurosen. Sie lächelt. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, meistert höflich und gelassen jede noch so absurde Situation. Sie ist der Kompass für mein Gemüt.
Mein Corona ist eine Schlange, vor der ich wie eine Maus hocke. Ich könnte mich mit allem Möglichen beschäftigen, aber es fällt mir unendlich schwer, mich darauf zu konzentrieren.
Mein Corona sind Auslagen, die ich neuerdings betrachte. Ab und zu muss ich spazieren gehen, um den Lagerkoller, so gut es eben geht, hinauszuschieben. Aber so trivial oder wenig relevant der Inhalt dieser Auslagen für mich auch sein mag (neulich erwischte ich mich vor einem Laden für orthopädische Produkte …) – irgendein Reiz ist mir derzeit immer noch lieber als gar keiner.
Mein Corona ist eine alte Frau, die auf der Straße vor mir zurückweicht. Ich hatte, in einer sicheren Entfernung von wenigstens drei Metern, nur einen Schritt in ihre Richtung gesetzt, das hatte genügt, um sie zu erschrecken. Achtsam zu sein ist gar nicht so einfach. Man muss die Ängste und Nöte der Anderen mit-antizipieren.
Mein Corona ist ein geschenkter Schokokuchen. Ich habe ihn von meiner Mutter erhalten, noch warm, weil ich für sie einkaufen gegangen bin. Auf dem Hinweg war ich ein Sohn, der eine Pflicht zu erfüllen hatte, am Rückweg ein Bub mit Schokolade.

© Tom F. Lange, 2020

P.S.: Der nächste Beitrag erscheint am 24.3.2020., um 17h.


[1] »Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr.« John Stuart Mill, Utilitarismus, 1863, Kapitel 2.

Von der Liebe

Laughter ringing in the darkness
People drinking for days gone by
Time don’t mean a thing
When you’re by my side
Please stay a while
You know I never could foresee the future years
You know I never could see where life was leading me
But will we be together forever,
What will be my love, can’t you see that I just don’t know.

Queen. You and I. Aus: A Day at the Races, 1976.

Eine willige Bekanntschaft stellte mir, kurz bevor wir unseren Nicht-Pflichten in  nicht-ehelicher Weise nachkamen, die folgende Frage: »Liebst du mich, begehrst du mich oder willst du mit mir vögeln?« Sie meinte es freundlich, ihr war jede Antwort recht; alles, was sie wollte, war vorher Bescheid wissen. Aber es war eine kluge Frage. Denn sie veranlasste mich, das Motiv, das mich zu ihr getrieben hatte, zu erkennen und zu benennen. Ich entschied mich für die unverbindlichste Variante und – siehe da! –, danach stand nichts mehr zwischen uns, was nicht dem Vergnügen gedient hätte. Wir haben diese »multiple choice«; wir sind nicht verpflichtet, jeden Menschen, mit dem wir unsere Triebe ausleben oder der uns gut tut, gleich zu lieben. Wir sollten nur in jedem Fall respektvoll mit dem Anderen umgehen und – wissen, was wir wollen.
Wenn ich einer Frau begegne, die mir gefällt, stelle ich mir immer die gleiche Frage: »Liebe ich sie oder liebe ich nur Teile von ihr?« Muss ich letzteres bejahen, dann weiß ich, ich liebe nicht. Denn Liebe besteht nicht in einem Abwägen von Vorzügen und Mängeln (Mängelexemplare sind wir alle), sondern in dem Erfassen und Bejahen des ganzen Menschen. Selbst die Feststellung, dass die Vorzüge einer Person deren Mängel bei weitem übertreffen, begründet keine Liebe, sondern lediglich ein Geschäftsmodell. Man »nimmt etwas in Kauf«, hat also, zumindest auf sprachlicher Ebene, den Handel bereits abgeschlossen. Ganz zu schweigen davon, dass man damit diesem – so messerscharf erkannten! – Mangel, ein völlig unangebrachtes Gewicht verleiht. Entweder man liebt oder man liebt eben nicht. Ein einmaliges «Ich könnte dich lieben, wenn du nicht so blöd wärst«, ist allemal besser als ein ewiges »Ich liebe dich, aber du bist schon sehr dumm«. L’enfer, c’est les autres.[1] Und eine leichtfertige Vergabe des Etiketts Liebe führt ohne weiteres in die Hölle auf Erden. Freilich werden derartige Händel gerne für Liebe gehalten, vor allem, weil sie funktionieren. Im Normalfall landet die Beziehung bei einem quid pro quo, einer Aufrechnerei, was der eine für den anderen getan hat, tun sollte, etc; im Extremfall bei dem alten Kaufmann, der auf die Frage, ob er denn nicht wisse, dass ihn seine schöne Frau mit dem Tennislehrer, dem Poolboy, dem Hausarzt, kurz, mit jedem Mann, der für sie greifbar ist, betrügt, antwortete: »Ja, sicher weiß ich das. Aber ich bin lieber mit zehn Prozent an einer guten Sache beteiligt, als mit hundert Prozent an einer schlechten.« In allen Fällen achtet jeder auf seinen »return on investment«, zuweilen »arbeitet« man vielleicht sogar an seiner Beziehung und ist auch noch stolz darauf.

Wenn die Liebe aber mehr als bloße Geilheit oder Begehren ist und keine »Gesellschaft mit beschränkter emotionaler Haftung« sein soll, was ist sie dann? Nichts als ein Wahn? Eine postkoitale Wertbeimessungsstörung? Temporäre Verblödung, wie es mir von meinen schwärzesten Stunden eingeflüstert wird? Oder ein Lebenselixier? Tief wie das Meer, die stärkste Macht der Welt? Unsterblich gar, und nur dann, nur unter dieser Voraussetzung wahr? Letzteres Konzept finde ich seit jeher schwierig. Wer seine Liebe für unsterblich erklärt, erhebt das Unmögliche zur conditio sine qua non, schreibt somit von Anfang an das Scheitern in die Beziehung ein, indem er ihr eine Erwartung aufdrückt, die unerfüllbar ist. Die Liebe hat keine Zukunft, sie ist sterblich, sie darf sich nicht nur das Unmögliche nicht erwarten, sondern gar nichts. Schon gar nicht Erwiderung. Aber sie darf hoffen, – soll und muss das sogar. So wie die Liebe mit Erwartungen nicht vereinbar ist, ist sie ohne Hoffnungen nicht denkbar. Diese sind legitim, denn sie denken den Fehlschlag mit, jene illegitim, weil sie ihn ausschliessen. Anders gesagt: ich werde nur dann nicht scheitern, wenn ich mein Scheitern zulasse. Oder ich bin der Metzger, aus Ödon von Horváths Geschichten aus dem Wienerwald, wenn er verkündet: »Marianne, du wirst meiner Liebe nicht entgehen!«
Ist die Liebe etwa eine Kunst? Es gibt zumindest zwei Autoren, die das bejahen. Der eine, der, aus altem Landadel stammende Publius Ovidius Naso, kurz Ovid genannt, feierte mit seiner Liebeskunst (Ars amatoria) große Erfolge im antiken Rom. Der andere, der Sozialpsychologe Erich Fromm, publizierte in den 1950er Jahren Die Kunst des Liebens, und schuf damit einen Bestseller. Während Fromm fundierte Analysen und Erkenntnisse formuliert, treibt der Spötter Ovid sein Spiel mit dem Thema. Jener definiert die Liebe, treibt dem Begriff diverse pseudoromantische Vorstellungen aus; dieser unterrichtet wissbegierige Jünglinge darin, wie sie möglichst viele der reizenden Mädchen Roms[2] flachlegen können. Als Voraussetzung für die Kunst des Liebens nennt Fromm Selbstdisziplin, Konzentration und Geduld.[3] Besser könnte man Ovids Ratschläge an seine, in ihren Startlöchern scharrenden Jünglinge nicht zusammenfassen. Fromm bespricht selbstverständlich beide Geschlechter, während Ovid sich vordergründig nur an junge Männer wendet, die seiner Meinung nach Belehrung nötig haben. Aber gerade die dreiste Amoral dieses Reigens männlicher Verführungstricks wird auch seine weibliche Leserschaft ziemlich amüsiert haben. Der Dichter und der Sozialpsychologe treffen sich, – über beinahe zweitausend Jahre hinweg – noch in einem anderen Punkt: in ihrem Kunstverständnis. Beide gehen offensichtlich davon aus, dass jemand, der sein Handwerk nicht beherrscht, es niemals zu einer Kunst machen kann.
Wenn in diesem Volk jemand die Kunst des Liebens noch nicht kennt, lese er dieses Buch und liebe dann mit Verstand.[4] Ovids Verführer unterscheiden sich weniger in ihrer Herangehensweise von den Liebenden Fromms, als vielmehr in ihrem Charakter und ihren Intentionen. Aber dass man die Angelegenheit vernünftig anzugehen hat, war beiden klar. Und es gibt ein weiteres, beide Werke fein durchziehendes, gemeinsames Element, das sie, zu guter Letzt, eindeutig voneinander trennt. Beide besprechen, ob nun gewollt oder ungewollt, den Eros-Begriff Platons. Der eine, indem er ihn fröhlich negiert, der andere, indem er diesen mit seinem Werk bekräftigt. Denn Eros ist laut Platons Priesterin Diotima nicht das, was geliebt wird, sondern das, was liebt[5], Eros sei weiters ein Zwischenwesen, er sei weder Gott noch Mensch, weder schön noch hässlich, einmal klug, dann wieder dumm. Er, der raue barfüßige Jäger, strebe jedoch primär nicht nach dem Besitz des Schönen, sondern nach der Hervorbringung des Schönen, und in weiterer Folge, des Wahren und Guten.[6] Wofür du aber Eros gehalten hast, sagt Diotima zu Sokrates, das ist keine erstaunliche Auffassung. Du glaubtest […], dass Eros das Geliebte sei, nicht dass Liebende. Deswegen, meine ich, erschien dir Eros wunderschön; denn das Geliebte ist das wahrhaft Schöne, Anmutige, Vollendete und selig zu Preisende, das Liebende aber ist mit einer anderen Gestalt von der Art versehen, wie ich sie vorgeführt habe.[7]
Zurück zum Ganzen: Die Liebe fragt nicht nach Plus und Minus, sie fragt nach dem Menschen, weil sie erkannt hat, dass dieser nur in unzerteiltem Zustand geliebt werden kann. Wer einerseits lieben, aber andererseits den geliebten Menschen ändern will, weil ihm bestimmte Teile nicht passen, liebt nicht den Menschen, sondern seine Vorstellung von diesem Menschen, sein Ideal, das er sich konstruiert hat, das aber nur für ihn ideal ist. Ein Versagen auf den Spuren eines missverstandenen Platon, das ein unerreichbares Ideal an die Stelle des real vorhandenen Menschen setzen will; selbstverständlich scheitert, um dann frustriert in seine Höhle zu retirieren, wo er nur noch mit Schatten spielen kann. Frau sagt: »Er ist so schwierig, ich trau’ mich schon gar nicht mehr, etwas zu sagen.« Mann sagt: »Seit sie mich kennt, ist sie viel ruhiger geworden.«
Jenen Erbsenklaubern unter den Liebenden sei es um die Ohren geschlagen: Auch ihr habt schon einmal eine Schwäche reizvoll gefunden! Venus hat geschielt, und war, wie’s scheint, nicht die Klügste; Adonis war nur ein Waldmensch, doch ihn liebte die Göttin sogar.[8] Man denke sich seine andere Hälfte (nicht »bessere«, denn dies impliziert gleich wieder eine Erwartungshaltung) als eine scharfgemachte Bombe, vielleicht tut man sich dann etwas leichter. Diese lieben wir zwar selten, aber bei ihr fällt es uns nicht ein, irgendein Drähtchen ohne Überlegung durchzuschneiden. In diesem Fall wissen wir, dass wir nicht wissen, was wir tun, also lassen wir es. Wer einfach so an den Drähtchen seiner Partnerin oder seines Partners herumschnippelt, darf sich nicht wundern, wenn ihm die Beziehung um die Ohren fliegt. Wir wissen nicht genau, was wir lieben. Wir wissen nur, es ist etwas in diesem Menschen. Es mag eine Stärke sein oder eine Schwäche, ein Vorzug oder ein Mangel, ein Gabe oder ein Defekt. Was ist Gabe, was Defekt? Als Don Quijote, der irrende Ritter, erstmals ausreitet, in seinem Wahn, versuchen seine Freunde und Bekannten alles, um ihn wieder zur »Vernunft« zu bringen. Am Ende des Buches bestürmen sie den inzwischen geheilten Don Quijana, wie dieser eigentlich geheißen hat, doch bitte wieder Don Quijote zu werden. Denn sie haben erkannt, dass es der Narr ist, den sie lieben.

Liebe heißt, den ganzen Menschen lieben, ob nun mit oder trotz seiner sogenannten schlechten Eigenschaften. Eine andere Wahl haben wir nicht, da nur dieser ganze Mensch als Angebot vorhanden ist. Also kritiklos alles hinnehmen, die Schwächen, die Neurosen, das Versagen? Nein, aber es hat auch niemand gesagt, dass es leicht wäre, zu lieben. Ein schmaler Grat ist meiner Meinung nach gangbar: Vorbehaltlos lieben – aber aufmerksam; alles hoffen – nichts erwarten; träumerisch – aber sterblich. Und heiß lieben! – aber unidealisierend. Als irrendes Menschlein, das weiß, dass es nur ein anderes irrendes Menschlein lieben kann und, dass es sich umgekehrt genauso verhält. Oder auf Venus, Jupiter, etc warten; die haben sich allerdings schon länger nicht mehr blicken lassen.

© Tom F. Lange, 2019


[1] Die Hölle sind die anderen. Zitat aus: Jean Paul Sartre, Huis clos, 1944.
[2] Ovid, Liebeskunst, I, 55f. Dir bietet Rom so viele, so reizende Mädchen dar, dass du sagst: »Was es je auf der Welt gab, das besitzt diese Stadt.«
[3] Erich Fromm. Die Kunst des Liebens, S. 167ff: Kapitel IV, Die Praxis der Liebe. Verwendete Ausgabe: dtv, 1995.
[4] Ovid. Liebeskunst, I, 1f.
[5] Vgl. dazu Erich Fromm: Die Kunst des Liebens, S. 11: Die meisten Menschen sehen das Problem der Liebe in erster Linie als das Problem, selbst geliebt zu werden, statt zu lieben und lieben zu können. Verwendete Ausgabe: dtv, 1995.
[6] Platon, Symposion, 201d – 212, Gespräch des Sokrates mit der Priesterin Diotima.
[7] Platon, Symposion, 204 b, c.
[8] Ovid. Liebeskunst, I, 512.

Vom pflichtgemäßen Handeln

Daß es allerdings im Leben nichts Angenehmeres gibt als sich mit dem zu beschäftigen was einem persönlich am Herzen liegt, […] das dürfte wohl einem jeden einleuchten.  Aber du mußt auch bedenken, daß ein jeder von uns nicht bloß für sich selbst geboren ist, […]

Platon,  Neunter Brief.[1]

Neulich fand in unserem Tümpel eine Volksabstimmung statt, die von einem äußerst eloquenten Frosch namens Schwarzbraungefleckt durchgesetzt worden war. Sein politischer Gegner, Rotgrüngestreift, war mindestens ebenso eloquent und hatte ihm bei mehreren Gelegenheiten jegliche Fähigkeit zu einigermaßen logischen Denken abgesprochen, ihn sogar einmal als vulgären Proleten verspottet. Bei einer besonders hitzigen Debatte rief Rotgrüngestreift empört aus: »Da können Sie doch gleich behaupten, dass zwei und zwei fünf ist!« Schwarzbraungefleckt sagte daraufhin: »Wissen Sie was? Genau das werde ich tun!« Er initiierte eine Volksabstimmung darüber, wieviel 2 + 2 ist und sammelte fleißig Unterstützungserklärungen dafür, dass 2 + 2 in Zukunft 5 sein sollte. Das gelang ihm auch, denn er überzeugte die Leute davon, dass es gar nicht um den Inhalt der Abstimmung gehe, sondern nur darum, diesen arroganten Eliten einen Denkzettel zu verpassen. Rotgrüngestreift und seine Anhänger sahen sich ohne eigenes Zutun in das Lager der Vernunft versetzt, sie meinten daher, ihren Wahlkampf ohne Nachdruck betreiben zu können: »Aufgeklärte Frösche müssten schließlich wissen, wie in dieser Frage zu entscheiden wäre.« Dabei übersahen sie vollkommen, dass sie mit derartigen Aussagen exakt jener Überheblichkeit das Wort redeten, die sie schon etliche Sympathien gekostet hatte, und, dass sie in der Vergangenheit selbst so manchen unvernünftigen Standpunkt vertreten hatten. Es versteht sich von selbst, dass Mathematiker in der Diskussion überhaupt nicht zu Wort kamen. Die meisten in unserem Tümpel sahen der Abstimmung eher mit Amüsement als mit Sorge entgegen, die Wahlbeteiligung war entsprechend niedrig. Nichts bereitete uns auf den Schock am nächsten Morgen vor, als die Stimmzettel ausgezählt waren und das Ergebnis vorlag: 2 + 2 = 5! Das war Gesetz geworden, mit einer Mehrheit von 50,9 % zu 49,1 % der gültigen Stimmen. Das Chaos brach im Tümpel aus. Der Finanzminister schoß sich bei der Lektüre der Morgenzeitung eine Kugel durch den Kopf, Banken und Versicherungen stellten ihren Geschäftsbetrieb ein, auf den Märkten und in den Läden wurde nur noch gestritten. Die Gewerkschaften verkündeten, dass der Acht-Stundentag neu geregelt werden müsse, da nunmehr nach den ersten zwei plus zwei Stunden bereits fünf Stunden verstrichen wären, nach den zweiten vier Stunden ebenfalls, also müssten von acht Stunden Arbeit zwei abgezogen werden. Die Arbeitgeber antworteten, das Gegenteil sei der Fall. Da zwei plus zwei Stunden Arbeitszeit nunmehr fünf Stunden ergebe, müsste in Hinkunft zehn Stunden lang gearbeitet werden.
Die Krise war da. Schwarzbraungefleckt erklärte alle Negativ-Schlagzeilen zu hetzerischer Falschmeldungen; Rotgrüngestreift bezeichnete ihn als narzisstischen Wahnsinnigen, der den Tümpel in den Untergang führe. Unser Tümpel war tief gespalten, ein Kompromiss musste her, die Frage war nur, wie? Schließlich wurde ein Tag bestimmt, an dem die Angelegenheit in einer öffentlichen Podiumsdiskussion gelöst werden sollte. Ein Moderator wurde ausgewählt, zu meinen Entsetzen verfiel man dabei auf mich!

Mit pochendem Herzen nahm ich meinen Platz zwischen den Kontrahenten ein, die mich mißtrauisch beäugten. Ich hatte mir meine Einleitung gründlich überlegt und wandte mich zunächst an den Frosch zu meiner Rechten:
»Herr Schwarzbraungefleckt, leben wir Ihrer Meinung nach in einer Gemeinschaft?«
»Ja, wie? Warum fragen Sie mich das? Selbstverständlich! In einer Gemeinschaft von mündigen Fröschen, die das Recht haben, …«
»Bitte zu diesem Zeitpunkt noch keine politischen Kommentare! Herr Rotgrüngestreift, die Frage an Sie: Leben wir in einer Gemeinschaft?«
»Ich finde das vortrefflich, wie Sie meinen Gegner gleich in Bedrängnis gebracht haben, er und seinesgleichen sind es ja schließlich gewesen …«
»Bitte antworten Sie auf meine Frage.«
»Ja, natürlich, wir leben in einer Gemeinschaft.«
»Gut. Ich habe mir zur Vorbereitung auf dieses Gespräch, – dessen Zweck ja die Lösung der aktuellen Krise ist, – ich bitte Sie beide, das nicht zu vergessen, – jedenfalls, ich habe mir Ciceros Text De officiis, was gerne mit »Vom pflichtgemäßen Handeln« übersetzt wird, durchgelesen. Es ist, zugegeben, eine etwas sperrige Lektüre, Cicero versucht über hunderte Seiten, die Idee des pflichtgemäßen Handelns näher zu definieren, und daraus einen Leitfaden für ein »richtiges« Handeln zu entwickeln. Wie lebe ich meinen Pflichten gemäß? Welchen Konflikte begegne ich dabei? Daher meine Frage an Sie: Sie beide haben durchaus rechtmäßig gehandelt, aber glauben Sie, dass sie pflichtgemäß gehandelt haben?«
Meine Gesprächspartner glotzten mich konsterniert an, Rotgrüngestreift antwortete: »Tut mir leid, ich verstehe die Frage nicht.« Sein Kontrahent meinte: »Geht mir genauso.«
»Pardon. Worauf ich hinauswill, ist das folgende: Angesichts der offensichtlichen Erosion des alltäglichen Sozialverhaltens und angesichts einer Gesellschaft, die sich selbstverliebt gegenseitig attestiert, dass »eh alles erlaubt ist«, was nicht explizit verboten ist, frage ich mich, ob die derzeitige Krise nicht eine gewisse Pflichtvergessenheit zur Ursache hat; eine Pflichtvergessenheit, die wohlgemerkt nicht nur Sie, sondern uns alle betrifft.«
»Wenn Sie damit auf die niedrige Wahlbeteiligung anspielen wollen …« tönte es zu meiner Rechten.
»42%! Das nennen Sie repräsentativ!« kam es von links zurück. »Und was ist mit den Fanatikern aus Ihrem Lager, die nachdem entschieden war, dass 2 + 2 jetzt 5 sein muss,  alle Autos in Brand gesetzt haben, die kein fünftes Rad sichtbar mit sich führten? Ist das der Wille Ihres Volkes?«
»Ich distanziere mich selbstverständlich vollinhaltlich von jeglichen Gewaltakten, aber ich verstehe das Anliegen der rechtschaffenen Frösche in unserem Tümpel, die ein Gesetz angewendet sehen wollen.«
»Meine Herren, bitte! Sie haben mir beide vorhin zugestimmt, dass wir in einer Gemeinschaft leben. Für Cicero waren Pflichten eine Selbstverständlichkeit, er fragte erst gar nicht, ob der Frosch denn Pflichten habe. Aber es setzte auch jegliche Pflicht in den Zusammenhang mit einer Gemeinschaft. Daraus lässt sich folgern: Der fernab jeglicher Gemeinschaft lebende Frosch, der Einsiedler, hat keine Pflichten, es sei denn, er erlegt sich selbst welche auf. Alle anderen, die in einem Miteinander leben, sei das mit der Familie, mit Arbeitskollegen oder mit der Gesellschaft insgesamt, haben dieser Gemeinschaft gegenüber gewisse Pflichten. Das kann die Erledigung des Abwasches in einer WG sein, aber auch der höfliche Umgang mit Andersdenkenden.«
»Was ist denn das für ein kranker Scheiß?« brach es aus Rotgrüngestreift heraus. »Das geht ja gar nicht! Jeder hat das Recht, alles zu tun, was er will! Individuelle Lebensführung ist unser höchstes Gut! Fröschin und Frosch sind frei, Alter! »Just do it!« Keiner bestimmt die Grenzen, an die du dich zu halten hast. Du machst dein eigenes Ding[2].«
»Deine Freiheit«, erwiderte ich gelassen, »endet an der Nasenspitze deines Mitfrosches.[3] Das hat bereits in der Antike ein Richter einem Raufbold geantwortet, der seine Attacken mit persönlichen Freiheitsrechten begründen wollte. Und ich rede nicht von einer Rückkehr in reaktionäre, autoritäre Zeiten. Ich sehe uns vielmehr am Endpunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung stehen, die mit notwendigen Reformen begonnen hat. 1968 etwa revoltierte man gegen eine arrogierte Autorität des Staates und seine »Respektspersonen«, gegen aufoktroyierte Pflichten, die sachlich nicht mehr zu begründen waren. Heute revoltiert man, meiner Ansicht nach, gegen fundamentale Pflichten, ohne die eine Gemeinschaft nicht bestehen kann. Die Parolen der ’68-Bewegung waren die Befreiung aus Zwängen, das Einfordern von Individualität und Selbstverwirklichung. Der Kampf um die Rechte des Frosches hat selbstverständlich schon viel früher begonnen, aber seit ’68 leben wir kontinuierlich in der »Predigt des Individualismus«, die, für sich betrachtet, durchaus segensreich war. Wir erlebten das Schwinden des Obrigkeitsdenkens, der Hörigkeit gegenüber Autoritäten, sowie ein immer stärkeres Selbstbewusstsein von zuvor unterdrückten Gruppierungen, wie etwa Arbeitern, Frauen und Kindern. Nur wurde, meiner Meinung nach, im Zuge dessen immer mehr verdrängt, dass Freiheit Verantwortung bedeutet. Jedes Recht, das sich der Frosch  oder die Fröschin erkämpft hat, ist ein Stück Gestaltungsfreiheit. Die Pflicht, die mit dieser Gestaltungsfreiheit mitübertragen wird, ist der verantwortungsvolle Umgang damit. Wenn mir die Gemeinschaft das Recht auf demokratische Wahlen ermöglicht, dann überträgt sie mir damit die Verantwortung für die Zukunft des Tümpels.«
»Genau!« Schwarzbraungefleckt konnte nicht länger an sich halten. »Diese linkslinken Phantasien einer totalbefreiten Gesellschaft müssen im Kein erstickt werden. Der fleissige, anständige Bürger toleriert weder Schmarotzertum noch Nestbeschmutzung. Deswegen kämpfen wir für das freie Mandat des mündigen Frosches. Das Volk hat immer Recht![4]«
»Na bestens! Zu meiner Linken höre ich »Mach dein Ding«, jeder soll schlicht alles machen dürfen, was ihm oder ihr beliebt; zu meiner Rechten, dass das Volk jede zivilisatorische Errungenschaft, die sich die Frösche über die Jahrhunderte erkämpft haben, aus einer Laune heraus zunichte machen darf. Denn es ist ja mit einer Unfehlbarkeit ausgestattet, die nicht einmal der Papst für sich beansprucht. Ich frage Sie also beide noch einmal: Glauben Sie, pflichtgemäß gehandelt zu haben?«
»Also, ich verstehe nicht, warum Sie mich da jetzt so anpatzen. Der kleine Frosch im Schilf erwartet von mir, dass ich unseren Tümpel gegen die pseudointellektuellen Hirngespinste rotgrüner Eliten verteidige.«
»Das haben Sie ja mit ihrem Referendum bewiesen, Kollege! Wenn wir schon von Pflichten reden. Und was Sie betrifft, Herr Frosch mit der Brille, von Ihnen lass ich mir keine Schuld in die Schuhe schieben. Ich bin nur mir selbst und meinen Überzeugungen verpflichtet und sonst niemandem!«
»Ach, ist das so? Sie haben mich beide noch immer nicht verstanden! Nicht nur Sie und ihre Anhänger haben ihre fundamentalen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft ignoriert, indem Sie einen kleinlichen Parteienstreit zum Nachteil unseres Tümpels ausgetragen haben, sondern wir alle! Der Ausgang dieses Referendums zeigt ja, dass wir zwar unser Recht zu wählen wahrgenommen haben, unsere damit verbundene Pflicht hingegen nicht. Jedes Recht bedingt eine Pflicht. Diese Pflicht ergibt sich aus der Gemeinschaft, in der ich lebe. Mein Recht auf freie Meinungsäußerung bedeutet nicht, dass ich jeden nach Lust und Laune beleidigen darf, sondern beinhaltet die Pflicht, mich den Umständen angemessen auszudrücken. Mein Recht auf individuelle Lebensführung ist keine Blanko-Vollmacht, sondern beinhaltet die Pflicht, anderen damit nicht zu schaden. Mein Recht auf Leben in einer Gemeinschaft beinhaltet die Pflicht, auf das Gemeinschaftswohl zu achten. Gemeinschaften entwickeln sich zwar durch die Zuerkennung von Rechten, sie entstehen aber durch die Übernahme von Pflichten. Auch unter Steinzeitfröschen musste zunächst einer das Feuer und ein anderer den Höhleneingang bewachen, bevor gefahrlos darüber diskutiert werden konnte, wer wie lange Wachdienst zu schieben hat. Die Gemeinschaft bestimmt die Grenzen, an die du dich zu halten hast, es sei denn, du willst außerhalb derselben leben. Dieser Grundsatz wird jedoch nicht mehr respektiert. Das beweist am deutlichsten die neue Sekte der Staatsverweigerer, deren Anhänger nicht länger Subjekte des Staates sein möchten, aber dennoch in ihm leben wollen. Radikaler kann man die Arrogierung von Rechten bei gleichzeitiger Missachtung jeglicher Pflicht nicht in die Tat umsetzen.«
»Sie und ihre antiquierten Wertvorstellungen«, entgegnete mir Rotgrüngestreift aufgebracht, »ich kann es nicht mehr hören. Welcher Vollpfosten hat Sie eigentlich zum Moderator ernannt?! Wann reden wir endlich von dem bösen Spiel, das Schwarzbraungefleckt und Konsorten mit unserem Tümpel getrieben haben?
»Dafür bin ich nicht zuständig. Ich bin hier, um die verbindenden Elemente in diesem Konflikt aufzuspüren, nicht die trennenden.«
»Und welche wären das, Herr Lehrer?«, erschallte es sarkastisch von rechts.
»Unsere Schwächen, die uns auch dann noch aneinander ketten, wenn wir nichts mehr gemeinsam haben. Irren ist froschlich. Das, was Sie und – ich betone – uns alle miteinander verbindet, ist, dass wir, in unserem verständlichen und auch berechtigten Streben nach persönlicher Freiheit, möglicherweise einen Fehler begangen haben.«
»Ja! Ja! Hören Sie das, Schwarzbraungefleckt! Wobei, das war kein Fehler, das war ein Verbrechen!«
»Ach, tatsächlich? Falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Das Volk hat gesprochen!«
»Herr Rotgrüngestreift! Herr Schwarzbraungefleckt! Wäre es denn möglich, dass wie die Niederungen dieses Konflikts einen Moment lang verlassen können, um ihn auf einer höheren Ebene zu betrachten?!«
Meine Gesprächspartner grummelten widerwillig Einverständnis, ich ergriff eilends das Wort: »Danke. Worauf ich hinauswill, ist, dass richtiges Handeln nicht immer angenehm ist, ja, es fordert den Frosch sogar auf, sich einem Diktat zu unterwerfen, – freilich einem, dem man sich meiner Ansicht nach willig unterwerfen könnte.«
»Diktat!«, wurde ich umgehend von links unterbrochen. »Was soll denn das schon wieder. Sowas kostet aufgeklärte Fröschinnen und Frösche doch nur noch einen Lacher! Sag’ mir, du kleiner Möchtegern-Diktator, wem oder was hätte wir uns denn zu unterwerfen, wenn’s nach dir ginge?«
»Dem Diktat der Vernunft. Deswegen bin ich hier. Um dafür zu sorgen, dass Sie beide an die Konsequenzen Ihres Handelns denken, und nicht immer nur an sich selbst.«
»Vernunft, ja, sicher!« tönte es von rechts, »Mein Gegenüber ist doch nicht einmal imstande, eine nach direkt-demokratischen Spielregeln erlittene Niederlage einzugestehen! Aber in einem gebe ich ihm recht: Ihre unangebrachten Belehrungen hängen mir auch schon zum Hals heraus. Sagen Sie, Herr Oberg’scheit, was wäre denn Ihr – ach, so vernünftiger – Vorschlag zur Lösung unseres Problems?«
»Nur wenn lauter Glatzköpfe am Tisch sitzen, findet keiner ein Haar in der Suppe«,[5] erwiderte ich. »In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Sie beide, die Suppe, die ich Ihnen auftische, als Glatzköpfe betrachten: Sie, deren Fraktionen im Parlament gemeinsam eine satte Mehrheit haben, hätten die Möglichkeit, den Ausgang des Referendums für nicht bindend zu erklären und das Gesetz zu annullieren. Damit wäre die Krise vorerst beendet, und man könnte in Ruhe debattieren, was weiter geschehen soll.«
Rotgrüngestreift sprang empört hoch: »Das werden Sie nicht erleben, dass ich mit diesem Rattenfänger paktiere! Die Suppe hat er sich selber eingebrockt, die muss er allein auslöffeln!«
Schwarzbraungefleckt hielt es auch nicht länger in seinem Sessel aus: »Was?! Ich soll den Volkswillen missachten?! Im stillen Kämmerlein mauscheln?! Niemals! Das freie Votum des mündigen Frosches ist unantastbar, 5 bleibt 5!!!«
»Ach, halt doch deine Fresse, Schmissgesicht!«
»Gusch, Multikulti-Kummerl!«
»Meine Herren! Bitte!«, warf ich verzweifelt ein, »Sind Sie denn wirklich nur zum Streiten hergekommen? Ich appelliere an Ihr Verantwortungsgefühl, an Ihren gesunden Froschverstand, …«
Da blickte der Frosch zu meiner Linken dem Frosch zu meiner Rechten fest in die Augen und sprach: »Ich glaub’, der hat uns jetzt oft genug verantwortungslos und deppert g’nannt. Wie sehen Sie das, Kollege?«
»Und glatzert dazu! Hau’ man aus’n G’wand!«

Sie schüttelten sich die Hand, ich flüchtete mit knapper Not und ging ins Exil in den Wald. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben,[6] dachte ich, während ich meine Wunden pflegte. Die »Predigt des Gemeinschaftswohls« war in unserem Tümpel zu lange nicht mehr gehört worden, sie wurde nur noch als Affront verstanden. Individualismus und Selbstverwirklichung waren zur knallharten Durchsetzung von Partikularinteressen pervetiert worden, ob nun auf persönlicher, regionaler oder staatlicher Ebene. Jeder macht sein Ding. Me first!

© Tom F. Lange, 2018


[1] Platons Briefe, 9, 357 St. 3 D – 358 St. 3 A. Übersetzung: Apelt 1922.
[2] Beto O’Rourke. Demokratischer Kandidat des Bundesstaates Texas bei den »Midterm-Elections« 2018. Quelle: www.derstandard.at. 21.10.2018, 8:00 h: Ex-Punkrocker Beto O’Rourke will Texas den Demokraten zurückgeben.
[3] Soquakes. Anthologia Ranarum, 12,7.
[4] Beliebter Spruch von Populisten, hauptsächlich aus dem rechten Lager: etwa der SVP (Schweizerische Volkspartei), www.republik.ch, 2.10.2018, https://www.republik.ch/2018/10/02/wie-recht-hat-das-volk; oder von Klaus Iohannis, anlässlich seiner Wahl zum Präsidenten Rumäniens, 2014. www.n-tv.de, 16.11.2014, https://www.n-tv.de/politik/Deutschstaemmiger-gewinnt-Rumaenien-Wahl-article13973011.html. Allerdings auch von Werner Faymann (SPÖ) in den Mund genommen: derstandard.at, 31.8.2011, 18:29h. https://derstandard.at/1314652679326/Das-Volk-hat-immer-recht
[5] Dionysios von Thessalonike. Epigramme, 5, 47.
[6] Angeblich von Michail Gorbatschwow, 1985 bis 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von 1990 bis 1991 Staatspräsident der Sowjetunion, dessen Reformen den maroden Staatenbund nicht mehr retten konnten.

Vom Sein im Hier und Jetzt

CONDOLEEZA RICE: »Hu ist new leader in China.« GEORGE W. BUSH: That’s what I’m asking you. Who is the new leader of China? CONDOLEEZA RICE: Yes. (…)

Hu’s on First? Jim Sherman. Chicago. 2003[1].

»Ich muss wissen, wie die Liste Pilz jetzt heißt«, dachte sich Sebastian und besuchte seinen Kumpel Heinz-Christian auf einen Kaffee. »Sag’ amal, H-C, wie heißt’n die Liste Pilz jetzt?« Der Vizekanzler blickte kurz von seiner Arbeit auf und sagte: »›Jetzt‹.« Sebastian irritiert das, aber er wartete höflichkeitshalber noch ein paar Sekunden, dann knurrte er: »Ja, jetzt will ich das wissen, net morgen und a net nächste Ostern. Ich bin der Bundeskanzler, ich muss wissen, wie die Liste Pilz jetzt heißt.« Heinz-Christian spürte, dass das eines dieser »besonderen« Gespräche mit seinem Kompagnon werden könnte und schob die Akten über die unaufgearbeitete Nazi-Vergangenheit seiner Partei auf die Seite. »Hab’ ich dir doch gesagt. Der neue Name der Liste Pilz ist ›Jetzt‹.« Sebastian verharrte gespannt. Angesichts der ersehnten Information, die ihm nun sekündlich offenbart werden müßte, wurde seine heraushängende Zunge länger und länger. Speichel näherte sich seinen Mundwinkeln, schließlich hielt er es nicht länger aus: »Jetzt sag’s endlich! Oder willst du mich pflanzen!?« Da fühlte sich auch Heinz-Christian gerollt und rief entrüstet: »Ich hab’ dir bereits gesagt, wie die Liste Pilz jetzt heißt! Sie heißt jetzt ›Jetzt‹!« »Na prima«, dachte Sebastian, »jetzt fängt er auch noch zum Stottern an.« Laut sagte er: »Das muss ich dir schon sagen, ich find’ das echt gemein, dass du mich so hängen lässt. In einer halben Stunde ist PK und ich weiß noch immer nicht, wie die Liste Pilz jetzt heißt.«
HEINZ-CHRISTIAN: »Doch. ›Jetzt‹.«
SEBASTIAN: »Nein, weiß ich jetzt nicht! Sag’s doch endlich: Die Liste Pilz heißt jetzt …?«
HEINZ-CHRISTIAN: »Genau!«
SEBASTIAN: »Die Liste Pilz heißt jetzt ›Genau‹?«
HEINZ-CHRISTIAN: »Neeeiiin! Nur ›Jetzt‹, nicht ›Genau‹!«
SEBASTIAN: »Nicht genau? Ja, aber, ich muss das doch genau wissen, wie die Liste Pilz jetzt heißt. Wie steh’ ich denn sonst da, in der Öffentlichkeit?«
HEINZ-CHRISTIAN: »Der neue Name der Liste Pilz ist ›Jetzt‹!!! Kruzitürkn!«
SEBASTIAN (erheitert): »›Kruzitürken‹? Da schau her! Was für ein lustiger Name!«
HEINZ-CHRISTIAN: »Nein! ›Jetzt‹!«
SEBASTIAN: »Was? Also, mit dir ist heute ja rein gar nichts anzufangen. Ich ruf den Herbert an.«
Sebastian ruft an, eine Stimme meldet sich am Telefon: »Kickl?«
SEBASTIAN: »Ja, servus, Berli, bitte, kannst du mir sagen, wie die Liste Pilz jetzt heißt?«
HERBERT: »Liest du ka Zeitung? Der neue Name der Liste Pilz ist ›Jetzt‹. War der Aufreisser.«
SEBASTIAN: »›WarderAufreisser‹?«
HERBERT: »Ja, sicher!«
SEBASTIAN: »Danke!«
SEBASTIAN: »(zu sich) Da wär’ ja ›Kruzitürken‹ noch besser g’wesen … (zu Heinz-Christian) Siehst, H-C, der Berli ist nicht so schwierig wie du. Der hat mir sofort g’sagt, dass die Liste Pilz jetzt ›WarderAufreisser‹ heißt.«
HEINZ-CHRISTIAN: »Weißt, Basti, ich kann dich ja ganz gut leiden, aber manchmal gehst du mir ziemlich am Orsch!«

© Tom F. Lange, 2018


[1] Im Jahr 2003 wurde Hu Jintao Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas. Jim Shermans Dialog zwischen Condoleezza Rice und George W. Bush erlangte in kürzester Zeit Weltruhm. Für den kompletten Text: https://www.et.byu.edu/~tom/jokes/Hu_is_on_first.htm

Von einem Sinkflug, der kurz bevorsteht

»Vor allem werfe ich aus jedem Satz alle überflüssigen Wörter hinaus. Das erfordert ein scharfes Auge, denn die Sprache weiß ihren Kehricht, die Wiederholungen, Synonyma oder einfach sinnlose Wendungen, geschickt zu verbergen und scheint in einem fort darauf aus zu sein, uns zu überlisten. (…) Wenn der Kehricht ausgefegt  ist, prüfe ich die Bilder, Vergleiche, Metaphern auf ihre Frische und Genauigkeit. Finde ich keinen passenden Vergleich, dann lasse ich ihn am besten ganz fort. Mag das Substantiv aus sich selbst, durch seine Einfachheit leben! Ein Vergleich muß genau sein wie ein Rechenschieber und natürlich wie der Geruch des Dills.«[1]

Man könnte es einen »Silberstreif am Horizont« nennen. Sollte man aber nicht, denn in sozialistischen Kreisen weckt diese Wendung immer noch unangenehme Erinnerungen. Nennen wir es lieber ein »Licht am Ende des Tunnels«; das Aufflackern einer Hoffnung auf baldige bessere Zeiten, zumal diese, wie es die Gulaschkanone unter den Sprachakrobaten[2] kürzlich verkündet hatte, offenbar viel früher kommen, als wir gedacht hätten. »Uff!«, dachte sich mancher an diesem denkwürdigen 13.10.2018, einem sonnigen Samstagnachmittag, »das Schlimmste haben wir hinter uns«. Denn der Kanzler selbst informierte uns darüber, dass seine Regierung nunmehr ihre »Reiseflughöhe erreicht habe«[3]. Das Volk reagierte mit spontanen Freudenkundgebungen: Auf dem Ballhausplatz tanzten junge Frauen mit Passanten Walzer, Gemeindebauten wurden fröhlich beflaggt, verkniffene Sozialisten-Münder öffneten ihre runzligen Lippen zur Anstimmung der »Internationalen«. Denn der Kurze selbst hatte ihnen das gesagt, was sie sobald nicht zu hoffen gewagt hätten: Diese Regierung hat ihren höchsten Punkt erreicht, demnächst kann’s nur noch abwärts gehen. Wann genau, wissen wir nicht, aber wir haben das Wort des Kanzlers, dass er bald nur noch eine Richtung kennen wird: nach unten. Oder hat er wieder einmal etwas anderes gemeint als er gesagt hat? Schwierig. Wir wissen, wie das ist, in der Fliegerei: Oben geblieben ist noch keiner, schon gar nicht die Überflieger. Weiß Sebastian Kurz, wie das ist, mit den Metaphern? Dass man sie nur dann verwenden sollte, wenn sie – vom Anfang bis zum Ende durchdacht – keine andere Schlussfolgerung zulassen als die intendierte? Es ist selten, dass eine Regierung ihren bevorstehenden Niedergang ankündigt, meistens kämpft sie doch gegen den Abstieg an oder will ihn nicht wahrhaben.
Und auch in anderer Hinsicht ist diese Metapher eine unglückliche. Über den Wolken, sang Reinhard Mey 1974,  muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen sagt man, blieben darunter verborgen. Und dann würde was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein. Politiker, die ihren eigenen Höhenflug preisen, übersehen, dass sie damit die Menschen unter sich zurücklassen, – und diese Distanz nur vergrößern, je höher sie ihrer Meinung nach steigen. Sebastian Kurz ist abgehoben, was unter den Wolken passiert, ist ihm längst nichtig und klein. »Die Fleißigen dürfen nicht die Dummen sein«, wird uns seit einer gefühlten Ewigkeit von der Kanzler-Kanzel herab gepredigt, bei der »Reiseflughöhe« hat man freilich den Eindruck, dass hier ein Dummer fleißig war.
Wie konnte es dazu kommen? Bastis sprachliches Unvermögen ist längst bekannt,[4] andererseits verfügt er mit Sicherheit über ganzes Bataillon von Redenschreibern. Ich, in meinem froschlich-schwachen Sehvermögen, dachte mir, ich frage die, die es am besten wissen muß, ich frage seine Muttersprache:
»Liebe Deutsche Sprache, wie kann es sein, dass ein amtierender Bundeskanzler, in einer bedeutsamen Rede eine derart unfreiwillig-komische, um nicht zu sagen peinliche Metapher verwendet?«
»Lassen Sie mich zunächst eines sagen. Wie jede Mutter liebe ich meine Kinder, was hingegen den Sebastian angeht, der hat mich in letzter Zeit zu oft gekränkt!«
»Ja, wie? Soll das heißen, Sie, seine eigene Muttersprache hatten etwas damit zu tun?«
»Zu tun haben, ist zu viel gesagt. Jedem von uns passiert einmal ein sprachlicher Schnitzer, darum geht’s nicht. Aber er fällt mir die längste Zeit nur noch unangenehm auf. Am Anfang dachte ich, er ist noch jung, man muß Milde walten lassen. Damit war dann irgendwann Schluss. Wenn er frei spricht – was selten vorkommt – stottert er wirres Zeug daher, wie ein Schuljunge, den man beim Nasenbohren erwischt hat. Wenn er seine Phrasen drischt, dann meist nur, um ehrenwerte Personen oder Institutionen auf das Hinterhältigste zu verleumden.[5] Er, der sich immer wehleidig darüber beschwert, dass man ihn »anpatze«, ist selbst der Meister dieser Disziplin. Als ich ihn dann dieser Tage beim Basteln seiner Rede erblickte, habe ich ihm diese dümmliche Metapher einfach in den Weg gelegt, wie zufällig, – aufgehoben hat er sie schon selber.« 
»Was!? Wie konnten Sie diesem, von Ihnen ohnehin schon derb gebeutelten jungen Mann auch noch vorsätzlich Schaden zufügen? Wo bleibt denn da ihre Mutterliebe? Wo Ihre mütterlichen Pflichten?«
»Ja, freilich! Die Mutter in die Pflicht nehmen, das könnte euch so passen! Und was ist mit den Sohnespflichten? Ehrt er mich denn? Benützt er mich nicht, für seine niederen Ziele? Achtet er denn auf eine präzise und fehlerfreie Ausdrucksweise? Hab’ ich denn keine Grammatik? Hat nicht eine Sprache Orthografie, Syntax, Semantik, Ausdruck, Stil? Und wenn er mich verwundet, blute ich dann nicht? Wenn er schwafelt, weine ich dann nicht? Wenn er mich schändet, leide ich dann nicht? Und wenn er mich beleidigt, soll ich mich dann nicht rächen?«
Ich hockte nach diesem Ausbruch noch eine Zeitlang wortlos da. So sehr ich auch erschüttert war, von dieser Kindesweglegung, mehr noch bewegte mich das gebrochene Herz der Mutter. Wie lange mochte sie mit sich gerungen haben, wieviele Tränen vergossen haben, bevor sie ihre Hoffnungen begraben und sich von ihrem eigenen Fleisch und Blut abwenden konnte? Ach, Mutterherz, duldsamer als du ist doch keines auf Erden!
Wie wird es nun weitergehen, mit diesem jungen Mann, der von seiner eigenen Muttersprache verstoßen wurde? Wie lange kann er sich noch mit auswendig gelernten Phrasen in der Luft halten? Wann folgt der Aufschlag auf dem harten Boden der Realität? Möge die Einjahres-Bilanz unseres Bundeskanzlers tatsächlich richtungsweisend gewesen sein.

© Tom F. Lange, 2018


[1] Der russische Journalist und Schriftsteller Isaak Babel (1894 – 1940) in Konstantin Paustowskijs Die Zeit der großen Erwartungen, Kapitel Eine Hundsarbeit. 1958. Aus: Konstantin Paustowskij. Erzählungen vom Leben, S. 729. Nymphenburger Verlagshandlung.1981. Die Ausgabe vereint drei der insgesamt sechs Bände der Lebenserinnerungen Paustowskijs.
[2] Siehe meine Artikel: Von Deutschkursen für Inländer, Teil 2,  11. 9. 2018 und Von den zwei Gesichtern des Ianuarius, 19. 1. 2018.
[3] ORF-Teletext, 13.10.2018, 13h 20: Kurz »Reiseflughöhe erreicht«.
Rund ein Jahr nach der Nationalratswahl, bei der die ÖVP das Kanzleramt zurückerobert hat, hat Regierungschef Kurz heute in Wien eine Rede mit Bilanz und Ausblick gehalten. (…) Heute sei die »Reiseflughöhe« erreicht, man sei mit vollem Tempo unterwegs, das Regierungsprogramm umzusetzen, …
[4] Siehe meine Artikel  Von den zwei Gesichtern des Ianuarius, 19.1.2018, Eilt-Meldung: Von Deutschkursen für Inländer, 31.1.2018, und Von Deutschkursen für Inländer, Teil 2, 11.9.2018 und die dazugehörigen Zitate und Quellenverweise.
[5] Zuletzt mit der unsäglichen Gleichstellung von NGOs mit Schleppern. Siehe www.derstandard.at, 14.10.2018: Kurz setzt Schlepper und Hilfs-NGOs faktisch gleich. https://derstandard.at/2000089290517/Kurz-setzt-Schlepper-und-Seenotretter-faktisch-gleich

Von Deutschkursen für Inländer, Teil 2

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) „begrüßt“ die Ankündigung, den Schutz von Flüchtlingen zu überprüfen. Die Überprüfung sei eine „Chance, Vorurteile und gezielte Falschinformationen über Österreich richtigzustellen“, teilte der Kanzler am Montag per Aussendung mit. Die „Lebensbedingungen für Migranten“ seien in Österreich „so gut (…) wie in kaum einem anderen Land der Welt“. Außerdem würden die Kontrolleure feststellen, dass Österreich „pro Kopf nach Schweden am zweitmeisten Menschen in Europa aufgenommen“ habe.[1]

Es hat ja so kommen müssen. Dort draußen, in der Welt der Menschen, ist wieder einmal etwas passiert, was selbst in meinem Tümpel Wellen schlägt. Einer, dem ich schon vor geraumer Zeit einen Deutschkurs für Inländer[2] nahegelegt habe, hat wieder zugeschlagen. Mögen viele meinen, dass die mangelnden Deutschkenntnisse unseres p.t. Bundeskanzlers unser geringstes Problem sind – hier schreibe ich, ich kann nicht anders.
Die Welt des Schreibens ist für mich ein Dorf. Es gibt dort unter anderem einen Spielplatz, auf dem ich mich nach Herzenslust austoben kann; ein Wirtshaus, in dessen bier- und rauchgeschwängerten Luft allabendlich die Welt gerettet wird; und einen Kampfplatz, auf dem ich postuliere, wie aus den Menshcen, dank meiner Führung, bessere Menschen werden. Es gibt dort auch einen Hain, in dem ich mit Claritas und Brevitas, den von mir imaginierten Töchtern der Kalliope[3] ringen kann, sofern mir gerade poetisch zumute ist. Gänzlich an einem Ort befinde ich mich nie; die meisten meiner Sandburgen haben einen harten Kern und meine Kampfschriften enthalten stets ein Körnchen Salz. Nur einen Platz gibt es, an dem ich mich, ganz egal, wo ich gerade schreibe, immer mit zumindest einer Arschbacke festgenagelt fühle: In der Dorfschule, kritisch beäugt von meiner dürren, graumausigen Deutschlehrerin, die immer dann, wenn ich die Grenzen dessen, was im Deutschen möglich ist, sträflich überschreite, ihr Rohrstaberl zückt und meine Sprechblase mit einem säuerlichen Lächeln zum Platzen bringt. Es versteht sich von selbst, dass ich sie liebe, auch wenn ich sie hasse.
Hätte Sebastian Kurz seine Wortschöpfung im Online-Duden nachgeschlagen, so wie ich es getan habe, dann wäre ihm mit der folgenden Meldung geholfen worden: »Leider haben wir zu Ihrer Suche nach ›zweitmeisten‹ keine Treffer gefunden.« Dem nicht genug, gleich darunter hätte ihm der Duden ein »Grundschul-Lexikon« empfohlen, mit Hinweis: »Entdecken – Verstehen – Mitmachen«, zum wohlfeilen Preis von euro 25,-. Meine graumausige Eminenz hätte das türkise Geschwurbel etwa wie folgt korrigiert: »Lieber Basti, wieso hast du nicht einfach ›… pro Kopf nach Schweden die meisten Menschen …‹ gesagt, das wäre immerhin Deutsch gewesen! Ich weiß natürlich, dass Politiker auch sprachlich situationselastisch sein müssen, aber deine Formulierung leidet nicht nur unter der Gewalt, die du damit deiner Muttersprache angetan hast, sie ist auch mißverständlich. So wie du das formuliert hast, › … nach Schweden am zweitmeisten …‹, muss man annehmen, Österreich befindet sich auf Platz Drei deines Migrantenaufnahme-Rankings, wobei du uns jenes Land, das nach Schweden die meisten Menschen aufgenommen hat, verschwiegen hast. Aber ich glaube, du wolltest uns etwas anderes sagen. Also, auch wenn es dir schwer fällt, denk’ in Zukunft ein bisserl mehr nach, bevor du den Mund aufmachst. Alles Liebe, deine Deutschlehrerin!«
Apropos schlechter Stil: es ist mittlerweile zum typischen Merkmal unserer Gulaschkanone unter den Sprachakrobaten[4] geworden, dass er zwar einer vorgeblichen Sachlichkeit das Wort redet, aber selbst auf das Untergriffigste austeilt, wenn irgendjemand seine Wohlfühlregentschaft in Frage stellt. So kommt auch bei der fundiertesten Kritik sofort der wehleidige Vorwurf des »Anpatzens« von ihm und damit gleich die erste Unterstellung, nämlich die der Verwendung eines dreckigen Arguments durch seinen Gegner. In Frankreich sagt man über einen besonders ruchlosen Heuchler und Blender »Il est tartuffe«, in Gedenken an die unsterbliche Figur Molieres; im Englischen gibt es den »hypocrite«, die deutsche Sprache hat leider nichts vergleichbares zu bieten. Aber vielleicht wird man auch in Österreich schon bald einen stärkeren Begriff zur Hand haben, wenn man einen Menschen, der ständig diffamiert oder heuchelt, bezeichnen möchte, und von ihm sagen: »Er ist sebastian!« Die Hoffnung auf diese Erweiterung des österreichischen Wortschatzes lebt, auch wenn sie vermutlich erst nach dem kurz’schen Interregnum Realität werden kann. Einer Hohen Kommissarin der UNO »gezielte Falschinformation« zu unterstellen, ist jedenfalls eine Frechheit, selbst wenn dies von einem gekommen wäre, der schon länger lange Hosen tragen darf als Herr Kurz. Was aber war denn die Falschinformation, die ihn so erregt hat? Michelle Bachelet hat keinen einzigen konkreten Vorwurf gegen Österreich erhoben. Sie hat angekündigt, den Schutz von Einwanderern in Österreich und Italien durch Teams überprüfen zu lassen. In Österreich sollen »jüngste Entwicklungen auf diesem Gebiet« bewertet werden. Wo ist da die Falschinformation? Wo das Vorurteil? Die Lösung ergibt sich aus der üblichen Vorgangsweise aller Rechtspopulisten: Die sattsam bekannte Schuldumkehr, in diesem Fall sogar noch bevor irgendeine konkrete Kritik geäußert wurde. Bevor noch irgendeine Überprüfung stattgefunden hat, bevor noch irgendeine Information am Tisch liegt, wird alles, was an Negativem gefunden werden könnte, bereits als gezielt falsch und/oder von Vorurteilen gelenkt, etikettiert. Dem folgte dann noch ein beleidigtes Räsonieren unseres Bundeskanzlers darüber, welchen Aufgaben sich die UNO-Menschenrechtskommission besser widmen sollte; die Unterstellung von möglicherweise in Zukunft fehlenden Ressourcen der UNO, wegen dieser angeblich unnötigen Überprüfung; und zuletzt ein Hinweis auf die Vergangenheit der Kommissarin in der »sozialistischen Internationalen«. Die »zweitmeisten« Menschen in unserem Land, und nicht nur diese, sehen’s mit Grausen.

© Tom F. Lange, 2018


[1] Quelle: UN prüft Migranten-Schutz, Kurz sieht „Chance“ und stichelt zurück. Kurier, 10. 9. 2018. Link: https://kurier.at/politik/inland/un-teams-sollen-schutz-von-immigranten-in-oesterreich-pruefen/400113485
[2] Siehe meinen Artikel: Eiltmeldung: Von Deutschkursen für Inländer. 31. 1. 2018
[3] Kalliope ist die Muse der Dichtkunst. Über den poetischen Grenzgang zwischen der claritas, der Klarheit, und der brevitas, der Kürze, siehe Horaz, De arte poetica, 24 ff.
[4] Siehe meinen Artikel: Von den zwei Gesichtern des Ianuarius. 19. 1. 2018

Von außerirdischen Fröschen

Der Vertretet Thubans schlug auf seinem Pult ein gewaltiges Buch auf – die Stelle war besonders gekennzeichnet – und begann zu lesen: »Entsprechend der gültigen Systematik umfaßt der Typ Aberrantia (Abseitige) die in unserer Galaxis anomalen Formen. Der Typ unterteilt sich in Untertypen Debilitales (Blödiane) sowie Antisapientinales (Vernunftwidrige). Zu letzterem Untertyp gehören die Gruppen Canaliacaea (Scheußler) und Nekroludentia (Leichenspieler). Bei den Leichenspielern unterscheiden wir wiederum die Gattung Patricidiaceae (Vatermörder), Matriphagideae (Mutterfresser) und Lasciviaceae (Ekelgeiler oder kurz: Geiler). Die Ekelgeiler, bereits völlig degenerierte Formen, klassifizieren wir, indem wir sie in Cretininae (Stumpfmäuler, z. B. Cadaverium Mordans, Leichenbiß-Narrkopf) und Horrorisimae (Ungeheuer, mit dem klassischen Vertreter in Gestalt des Trübsinnhabachters, Idiontus  Erectus Gzeemi) teilen. Einige der Ungeheuer bilden eigene Pseudokulturen; hierher gehören solche Arten wie Anophilus Belligerens, der Hinterlieb-Schlachter, der sich selbst Genius Pulcherrimus Mundanus nennt, oder wie jenes eigenartige, am ganzen Leib kahle Exemplar, das von Grammpluss im dunkelsten Winkel unserer Galaxis beobachtet wurde – Monstroteratus Furiosus (Gräßel-Wüterich), der sich selbst Homo sapiens nennt.«

Stanislaw Lem. Sterntagebücher, 8. Reise. 1971.[1]

Ich hockte gerade auf einer prächtig blühenden Seerose, die Sonne wärmte mich mit ihren Strahlen; Insekten, vom Duft der Blüte angezogen, flogen mir beinahe von selbst ins Maul, da zerfetzte es mit einem Schlag den idyllischen Frieden, den ich bis dahin genossen hatte. Ein gellendes Kreischen erklang, am Himmel erschien ein Feuerball, der geradewegs auf mich zustürzte. Ich, wie alle anderen Lebewesen des Tümpels, nahm eilends Deckung – unter der Seerose – und hielt mir die Ohren zu. Noch steigerte sich das Kreischen in immer peinigendere Höhen, noch verfluchte ich mich für meine Dummheit, da rummste es auch schon gewaltig; ich wurde mitsamt Wasser, Seerose und ich weiß nicht, was allem, ans Ufer geschleudert. Als ich meine Sinne wieder zusammen hatte, lugte ich vorsichtig zur Einschlagsstelle. Dampf lag über dem Tümpel, den die Attacke wider Erwarten nicht vernichtet hatte. Wind kam auf, schemenhaft, dann immer klarer erkannte ich ein erstaunlich kleines Objekt, das auf der Wasseroberfläche vor sich hin schaukelte, wie unschuldig an dem Chaos,  das es angerichtet hatte. Da sah man die kläglich emporgereckten Hinterteile flatternder Reiher, die es mit den Schnäbeln tief in den Schlamm gedrückt hatte, dort hingen Wasserschlangen betäubt in den Bäumen, zeternde Rentner bejammerten ihre Vorgärten, Ordnungskräfte standen mit offenem Maul herum.
Neugierig schwamm ich an das metallisch glänzende Objekt heran. Für den Flug in einer Atmosphäre war das Ding offenbar nicht gebaut worden. Es hatte die  organisch-asymmetrische Form einer reifen Birne mit einem langen, gebogenen Stiel, war aber von unzähligen Stacheln übersät. Während es stieloben im Wasser trieb, schätze ich seine Größe. Wird wohl einen guten Hüpfer[2] lang sein und einen halben breit, an seiner dicksten Stelle, dachte ich noch, da kam Bewegung in das Ding. Eine Klappe öffnete sich und heraus sprangen – Frösche! Oder zumindest Wesen, die verblüffende Ähnlichkeit mit Fröschen hatten. Einer schwamm gleich direkt auf mich zu – unter Einsatz von vier Hinterbeinen, wie ich feststellte, und rief: »Kommen Sie ruhig näher, kommen Sie, unser Arschloch will mit Ihnen reden. Keine Angst, unsere Mission ist friedlich.« Ich dachte, ich hätte mich verhört und näherte mich diesem seltsamen Besucher, der mir freudestrahlend blitzende Zahnreihen präsentierte. »Hüpfe lang und in Frieden, Erdling, gestatte, dass ich mich vorstelle, Ftznschdl, vom Planeten Zarkon! Ich bin total empathisch!« Willenlos ließ ich mir von ihm die Pfote schütteln, die er wie einen Pumpschwengel bearbeitete, während ich krampfhaft versuchte, meine Wahrnehmungen zu verarbeiten. Während ich ihn noch mit offenem Maul anglotzte, waren bereits drei weitere Ranoide[3] ihrem Raumschiff entstiegen und zu einem alten Holzbalken, der im Wasser trieb, geschwommen. Ftznschdl winkte mir einladend zu, dann schwamm er zu seinen Gefährten. Ich schüttelte mich, um meine Verwirrung abzustreifen und folgte ihm sogleich. »Wie peinlich«, dachte ich, während mich meine Schwimmstöße beruhigten, »das ist tatsächlich der erste Kontakt mit einer außerirdischen Lebensform und du, als Vertreter der Erde, stehst da wie ein Klotz und schaust blöd!«
Kaum hatte ich den Balken erreicht, sprang ich energisch hinauf und rief mit fester, aber freundlicher Stimme: »Willkommen auf der Erde, Fremdlinge, ich bin der Frosch mit der Brille und möchte euch hiermit im Namen aller lebenden Wesen unseres schönen Planeten begrüßen. Seid unsere Gäste!« Weit davon entfernt, meine Freundlichkeit zu erwidern, senkten drei der vier Ranoiden ihre Köpfe sofort in ihre Notizbücher und begannen sie vollzukritzeln. »Begrüßung durch Zahnlosen, Stammesältester?«, hörte ich einen der Schreiberlinge murmeln, »Minder-Hinterbeinler, naturbelassen« einen anderen. Der vierte der Ranoiden kam mir mit ausgestreckter Pfote entgegen: »Wpplr, mein Name, ich bin auf meinem Heimatplaneten ein bekanntes Arschloch für Igiotie, und das ist auch der Grund unseres Besuches bei Ihnen. Gestatten Sie, dass ich Sie mit meinen Assistenten bekanntmache: Ftznschdl haben Sie bereits kennengelernt, unsere Forschungsreise ist das Thema seiner Doktorarbeit; Herr Vllkffr und Frau Bltzgnßr sind Studierende im vierten Semester, sie absolvieren mit uns ihr Praktikum.« Ohne aufzuschauen reichten die beiden mir ihre Pfoten, ich holte tief Luft. »Tut mir leid, Herr Wpplr, ich verstehe kein Wort, was, zum Teufel, ist Igiotie, und wieso bezeichnen Sie sich selbst als ›Arschloch‹?« Wpplr blinzelte kurz, dann zog er mich, mit einem Blick auf seine Assistenten, abseits an das andere Ende des Balkens. »Verzeihen Sie, ich habe versehentlich einen igiotischen Begriff verwendet; ›Arschloch‹ ist mein akademischer Titel, in ihre Sprache übersetzt bedeutet er in etwa Professor. Und damit sind wir auch schon bei Ihrer ersten Frage. Die Igiotie ist mein Fachbereich als Sprachwissenschaftler. IGIOT bezeichnet das Insult-befreite Galaktische Idiom Ohne Tabubrüche. Um Ihnen das zu erklären, müsste ich allerdings weiter ausholen.« Ich bat ihn, dies zu tun. »Zunächst, wir befinden uns schon seit längerem im Orbit der Erde, im Zuge von nicht-invasiven Forschungen. Aber ich denke, das versteht sich von selbst, dass man nicht so mir nichts, dir nichts auf einem Planeten mit besonderen Bedürfnissen landet. Dabei stießen wir das irdische Phänomen der ›political correctness‹, – ich nehme an, Sie sind damit vertraut?« Ich nickte zustimmend, obwohl ich noch schwer an »dem Planeten mit besonderen Bedürfnissen« kaute. Wpplr fuhr fort: »Nun, die ›political correctness‹ ist nichts weiter als eine archaische Vorstufe der Igiotie, auch sie bemüht sich ja darum, Begriffe zu vermeiden, die als anstößig oder beleidigend empfunden werden. Freilich ist sie von der echten Igiotie noch weit entfernt, denn diese betreibt ihre Bemühungen nicht nur auf intergalaktischer Ebene, sondern ist weitaus höher entwickelt und konsequenter. Verzeihen Sie übrigens, wenn ich manchmal ein bisschen langsam spreche, es fällt mir zunehmend schwer, mich nicht igiotisch auszudrücken.« Das hätte ich mir schon gedacht, erwiderte ich freundlich und bat ihn abermals, fortzufahren. Er zog mich noch weiter an das Ende des Balkens. »Meine jungen Kollegen dürfen das nicht hören, wie ich mit Ihnen rede, die sind igiotisch aufgewachsen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber zurück zum Thema. Ich frage Sie: Es ist doch so, dass Sie bestimmte Begriffe schmähender Natur in Ihrer Sprache nicht mehr verwenden, oder?« »Selbstverständlich,« antwortete ich, »alles rassistische etwa, oder grob Diffamierendes …« »Selbstverständlich!« rief Wpplr triumphierend aus, »Und Sie werden mir bestätigen, dass Sie solche Begriffe auch dann nicht verwenden, wenn sich gar kein Mitglied der mit dem Begriff geschmähten Bevölkerungsgruppe in Hörweite befindet.« Auch das verstehe sich von selbst, antwortete ich. »Also macht es auch keinen Unterschied, ob ein Betroffener hundert Meter oder hundert Lichtjahre entfernt lebt. Punkt eins! Punkt zwei: Ebenso vermeiden Sie doch derartige Begriffe in anderen Sprachen, sofern Ihnen deren Bedeutung bekannt ist?« Ich nickte bestätigend. »Na, sehen Sie! Und jetzt sage ich Ihnen eines: Das Universum ist weitaus dichter bevölkert als Sie glauben. Es gibt beinahe unendlich viele Lebensformen und beinahe unendlich viele Sprachen. Das hat bedauerlicherweise zur Folge, dass beinahe jedes Wort jeder Sprache in irgendeiner anderen Sprache einen Insult oder eine Anstößigkeit bedeutet, von Tabubrüchen ganz zu schweigen. Da es aber der heiligste Grundsatz der GACKE ist, dass …« »Der, bitte was!?« unterbrach ich ihn perplex. »Ach, pardon: Der GAlaktischen Charta der Konföderierten Empathischen, unsere Verfassung, wenn Sie so wollen. Artikel 1 der GACKE besagt jedenfalls: Keinem Wesen darf es zugemutet werden, dass es, auch nur unwissentlich genötigt wird, einen Begriff zu verwenden, mit dem es die Gefühle eines anderen Wesens verletzen könnte, unabhängig davon, ob das dadurch betroffene Wesen davon weiß oder nicht.« »Geht das nicht ein bisschen weit?« fragte ich. »Aber nein, woher denn, niemand kann alle Sprachen des Universums beherrschen. Aber der total Empathische weiß, dass seine althergebrachte Sprache unrein ist. Er weiß, dass er, sofern er dieses kontaminierte Relikt einer archaischen Zeit verwendet, permanent Abermilliarden anderer Wesen im Universum beleidigt; auch, wenn er nicht genau weiß, welche. Und das steht in eklatantem Widerspruch zu seinem totalen Mitgefühl. Die sich anbietende Lösung war, eine Sprache zu entwickeln, deren Begriffe in keiner anderen Sprache irgendeine, die Gefühle verletzende Konnotation enthalten, und diese Lösung, ist, wie Sie sich denken können, igiotisch!« Mir schwirrte der Kopf, aber eine konkrete Frage hatte ich zum Glück parat: »Eines verstehe ich nicht. Wie kam es eigentlich zu Ihrem Absturz in unseren Tümpel? Ich meine, das kann doch keine planmäßige Landung gewesen sein, oder etwa doch?« Der Professor stutzte und runzelte die Stirn: »Ein ärgerlicher Lapsus. Unsere Beobachtungsbarke ist Ihrer Atmosphäre etwas zu nahe gekommen. Das Handbuch für stationäre Umlaufbahnen ist zwar in bestem IGIOT gehalten, aber drückt sich zuweilen etwas vage aus.« »Vage? Wieso denn das?« »Das ist eine der Herausforderungen, der wir uns, in unserem Streben nach absoluter Igiotie noch zu stellen haben. Der Wortschatz von IGIOT ist nach wie vor kümmerlich, wir dümpeln seit Jahren bei etwas mehr als fünfhundert Wörtern herum, aber das liegt in der Natur der Sache und darf einen echten Igioten nicht irritieren. Wissen Sie beispielsweise, welche Bedeutung der irdische Begriff ›Ich‹ für die Bewohner von Omega IV hat? Es bezeichnet einen männlichen Omeganier, der seine vordere Saugglocke über die Afterprotrusion eines Weibchens stülpt, ohne dabei beruhigend zu glucksen! Auf Nebula Centauri ist ›Ich‹ ein herabwürdigender Ausdruck für Nebulose, deren sexuelle Orientierung es ihnen unmöglich macht, mit den, für einen Fortpflanzungsakt nötigen fünf Geschlechtern zu interagieren. Auf Silicon Prime war ›Ich‹ ein wahnsinniger Diktator, dessen Name bei Todesstrafe nicht ausgesprochen darf. Soll ich fortfahren?« Ich schüttelte den Kopf und rief aus: »Aber Professor, bei einer fast unendlichen Anzahl an Sprachen scheint mir Ihr Vorhaben geradezu unmöglich zu sein!« Wpplr lachte verächtlich auf: »Ja, solche Kleingeister wie Sie hatten wir vor rund dreihundert Jahren auch noch. Aber seit der großen Büchertilgung im Jahr 43516 läuft die Sache wie am Schnürchen! Ich traute meinen Ohren nicht: »Büchertilgung?« Wpplr starrte mich missbilligend an: »Ja, was denken Sie denn? Ein paar Opfer muß die total-empathische Gesellschaft schon bringen! Nichts gegen Sachbücher, aber diese ganzen Schöngeister und selbsternannten Literaten, mit denen war doch nicht zu reden! Schwatzten einen voll mit ›Freiheit der Kunst‹, ›Notwendigkeit der Präzisierung‹ und was ihnen sonst noch an Albernheiten einfallen mochte, und weigerten sich auf das Impertinenteste, igiotisch zu schreiben! Was hätten wir da sonst tun sollen, als sämtliche erzählende Literatur, sei sie nun Prosa oder Lyrik oder sonstwas, zu vernichten und deren weitere Produktion zu unterbinden? Der letzte Schriftsteller hat sich übrigens vor 128 Jahren selbst das Leben genommen. Er hatte auf Galactigram gepostet, wie sehr ihm das Schreiben fehle, na, mehr hat er nicht gebraucht. Über sieben Milliarden Galactigramer haben ihm auf das igiotischte zu verstehen gegeben, dass sie sein eigenartiges Verlangen als Bedrohung für die totale Empathie empfinden. Danach hat er sein Ferienhaus im Orbit von Entropia durch die Luftschleuse verlassen, ohne Raumanzug, versteht sich. Wenn Sie mich fragen, das war das Beste, was er tun konnte. Wir wussten ohnehin nicht, was wir mit ihm anfangen sollten.« »Das ist aber nicht gerade mitfühlend!« protestierte ich. »Sie haben es noch immer nicht verstanden!« Wpplr geriet allmählich in Saft: »Bei der totalen Empathie geht es nicht um die anderen, sondern um einen selbst. Der total-Empatische kann und will es weder akzeptieren noch tolerieren, dass er, auch nur unwissentlich, Wörter verwendet, hört oder liest, die irgendjemanden im Universum kränken könnten. Das verbietet ihm sein totales Mitgefühl. Jener Schriftsteller war nichts weiter als ein verstockter Ketzer. Hätte er sich zur totalen Empathie bekehren lassen, wäre es ihm doch gar nicht mehr in den Sinn gekommen, sich seiner eigenen, von der Natur so unzulänglich konstruierten Sprache zu bedienen.« »Wieviele Wörter,« fragte ich beiläufig, »hatte seine unzulängliche Sprache denn?« »Äh, alles in allem ungefähr 500.000, wenn ich mich recht erinnere, warum?« »Nur so. Wissen Sie was? Gehen wir zur Entspannung noch eine Runde schwimmen und gesellen wir uns danach zu ihrer Mannschaft. Was halten Sie davon?« Wpplr stimmte zu und während wir unser Ründchen um den Balken drehten, informierte ich ihn über die Bedeutung des Begriffs ›Arschloch‹ in unserer Sprache. Er reagierte ziemlich eingeschnappt; eigentlich, so raunzte er, hätte er sich von dieser Expedition Fortschritte erwartet und keine Rückschlage. Ich ließ ihn schmollen und dachte über das Erlebte nach. Möglich wäre es immerhin, dass es ihm Universum tatsächlich so zugeht, wie mir das von Wpplr dargelegt wurde. In diesem Fall wäre es wohl angebracht, Wpplr und Konsorten schleunigst ins Jenseits zu befördern und ihre sterblichen Überreste im Wald zu verscharren. Besser allein als in igiotischer Gesellschaft. Abwarten, andererseits könnten meine Besucher auch Mitglieder einer radikalen, galaktischen Sekte sein; sieben Milliarden Galactigramer sind in einem beinahe unendlichen Universum eigentlich herzlich wenig. Drittens, und das war meine Hoffnung, könnten sie ebensogut entsprungene Irre aus irgendeinem Asyl für Lebensformen mit schweren Wahnvorstellungen sein. Dann müsste demnächst ein Sanitätsschiff auftauchen, das die ganze Bande in ihre Gummizellen zurückbefördert.
Auf den Balken zurückgekehrt, fanden wir seine Assistenten bei allerlei Arbeiten vor, die sie jedoch auf ein Wort des Professors sogleich unterbrachen. Als wir alle beieinander hockten, erhob ich das Wort: »Eines wollte ich sie schon die ganze Zeit fragen: Kennt man im Universum die berühmte Formel des genialen irdischen Physikers Albert Einstein, die da lautet: e = mc2? Meine Gäste zuckten sämtlich zusammen, als ob ich sie geschlagen hätte. Betroffene, eisige Mienen starrten mich an. Bltzgnßr sprang wie von der Tarantel gestochen auf, fauchte »Spezialist!« und hüpfte in den Tümpel. Wpplr forderte mich mit einer Kopfbewegung zum Mitkommen auf und wir begaben uns wieder einmal an das andere Ende des Balkens. »Was meine Kollegin da von sich gegeben hat, bedeutet in Ihrer Sprache – ich bitte im voraus um Verzeihung – soviel wie ›Primitivling‹. Den Begriff verwenden wir natürlich schon lange nicht mehr. Ein paar Jahrzehnte lang konnte sich die Formulierung ›Lebensform, die auf nicht-komplexe Sachverhalte fokussiert ist‹ behaupten, aber es leuchtet ein, dass auch dies bald als diskriminierend empfunden wurde. Heute reden wir von einem ›speziell fokussierten Lebensform‹, oder eben, im allgemeinen Sprachgebrauch, von einem ›Spezialisten‹. Was die von Ihnen genannte Formel betrifft: Ja, sie ist bekannt, aber wir ignorieren sie, so gut wir können. Wenn es denn sein muß, nennen wir sie die e-Formel«. »Ja, warum denn das?« fragte ich staunend. »Na, hören Sie mal! Sie können doch ein so majestätisches und facettenreiches Phänomen wie Energie nicht auf zwei Buchstaben und eine Zahl reduzieren! Wo kommen wir da hin? Darüber hinaus verwendet diese unsägliche Formel den Begriff der ›Masse‹, betreibt also implizit ›fat-shaming‹, eine Unsitte, die sogar bei Ihnen verpönt ist, soweit ich weiß!« »Ja!«, rief ich grimmig aus, »wir haben offensichtlich noch viel zu lernen, bevor wir Igioten werden!« »Das denke ich auch,« konzedierte mir Wpplr in väterlichem Ton, »aber nicht den Mut verlieren! Oh, schauen Sie mal, unser Raumschiff blinkt, die Reparaturen sind abgeschlossen! Tut mir leid, mein Freund, aber ich muß mich verabschieden. Wir müssen schleunigst zurück in den Orbit und uns zum nächsten Planeten aufmachen. Auf Wiedersehen!« Schon eilte er davon, da rief ich ihm nach: »Herr Professor, auf ein Wort!« Er drehte sich erwartungsvoll um, da winkte ich ihm lachend zu und rief: »Ganz ehrlich, Sie sind wirklich ein Arschloch!«


[1] Suhrkamp Verlag. Phantastische Bibliothek. Band 20. 1978. Seite 42.

[2] Längenmaß. 1 Hüpfer ist exakt 1, 472 Meter lang.

[3] Von »rana«, lateinisch für Frosch. »Frosch-ähnliche«.

Von Fröschen und Prinzessinnen

Lies des Mäoniers Sang, drin der Krieg der Frösche beschrieben,
dann entrunzle die Stirn auch für die Späße von mir![1]

Es ist mir zu Ohren gekommen, dass mich manche für eine Phantasiegestalt halten, für die Kopfgeburt eines trunksüchtigen Schreiberlings, der dieser Figur seine krausen Gedanken ins Maul legt und das man gut daran tut, diesem Gerede keine Beachtung zu schenken. Möge ein jeder nach seiner Façon glücklich werden! Ich begnüge mich damit, auf meinen verehrten Urahnen, den Gründer des Geschlechtes der Frösche mit der Brille hinzuweisen und auf das von ihm hinterlassene Manuskript aus dem Jahr 1263.
Es liegt heute in der Monastère des Grenouilles, im französischen Limousin, in dem berühmten Kloster, das jeder Frosch aber kein Mensch zu finden weiss. Es wurde Anfang des 13. Jahrhunderts erbaut, von den Gründern des Ordens der Schweigefrösche. Diese hatten einen Ort gesucht, an dem ihr Gelübde in besonderem Glanz erstrahlen konnte. In einem dichten Waldstück in Zentralfrankreich entdeckten sie schließlich einen kleinen Tümpel. An diesem Ort gab es weder Störche noch Schlangen, Marder und Füchse hatte lohnendere Beute im Überfluss, die Umgebung war menschenleer. Sie waren am Ziel ihrer Suche angelangt, an einem Platz, an dem sie durch keinen Feind und keine Gefahr zum Schweigen verpflichtet waren; an dem sie nach Herzenslust lärmen könnten, wann immer es ihnen in den Sinn käme. Dort ließen sie sich nieder. Fröhlich meißelten sie ihren Wahlspruch »C’est dure, mais ça va!«,[2] in den Felsen vor dem Eingang des Klosters und schwiegen fortan, zur höheren Ehre aller Frösche auf Erden.
Das Manuskript ist das älteste erhalten gebliebene Schriftwerk des Klosters. Mein Geschlecht hat es den Bemühungen der Schweigefrösche zu verdanken, dass dieses fragile Relikt bis auf den heutigen Tag von der langen Reihe unserer Vorfahren Zeugnis ablegen kann. Es handelt sich um einen Brief, festgehalten auf einem einzigen, strahlend weissen Blütenblatt einer Seerose, den sogenannten Nymphaei[3], von denen sich nur wenige erhalten haben. Mir, dem Nachfahren des Autors, wurde Zugang zum Original gewährt. Die unterirdische Kammer der Nymphaei ist nur durch einen langen Gang erreichbar, der von drei Türen unterbrochen wird. Diese sollen den ungehinderten Zufluss von feuchter Luft in das Nymphaeum unterbinden. In den ersten beiden Abschnitten geht man durch ein Spalier von Ordensbrüdern, die dort Wache halten. Auch sie bewegen ihre Zungen nur, um den Weg von Insekten, die sich in den Gang verirrt haben, zu beenden. Vor dem letzten Abschnitt des Ganges muss ein spezielles Schuhwerk übergezogen werde, denn ab diesem Punkt geht der Besucher über ein Bett aus reinstem Steinsalz, das regelmäßig ausgetauscht wird. Das erste, was einem beim Betreten der Kammer auffällt, ist ein Trippeln wie von hunderten winzigen Füßen. Ein Geräusch, das den Blick des Besuchers auf die Decke und die Wände der Kammer lenkt, die von dichten Netzen überzogen sind. Die letzten und zuverlässigsten Wächter der Nymphaei, die Spinnen der innersten Kammer, haben sich vor dem Licht zurückgezogen. Sie stehen seit Generationen im Dienst der Mönche, freilich, ohne dass sie selbst von der Aufgabe wüßten, die sie so vortrefflich erledigen. Ihr Sensorium hat sich in dieser Zeit beträchtlich verfeinert. Ihnen genügt eine winzige Änderung im Luftstrom, das leise Vibrieren eines Fadens im Netz oder das Knirschen eines Salzkornes und schon umschließen ihre Kiefer den Leib ihrer im Dunkeln umherirrenden Beute.
In der Kammer, deren strahlend weisses Salzbett nur wenig Beleuchtung braucht, lagern die Nymphaei in ihren Schatullen. Nur das härteste und jahrelang getrocknete Wurzelholz findet für diese Verwendung, sie werden mit Duftstoffen präpariert, um Freßschädlinge fernzuhalten und sind, einmal verschlossen, so gut wie luftdicht. Mit angehaltenem Atem erblickte ich das Manuskript meines Ahnen, als ich es endlich vor Augen hatte, wie es, auf feinstem Reis gebettet, vor mir lag. Noch bewunderte ich seine zierliche Handschrift, noch staunte ich über die Unversehrtheit des getrockneten Blütenblattes, da befahl mich die Hand des Bibliothekars auch schon wieder hinweg. Nicht kam es mir in den Sinn, die Strenge jener zu rügen, deren Sorgfalt mir diesen Anblick ermöglicht hatte.
Was aber stand in diesem Brief, der seine lange Reise in die Gegenwart unbeschadet überstanden hatte? Welche Botschaft ruft er uns zu, über den Abgrund der Zeit hinweg? Das Kloster, das man durch den Souvenirshop verlässt, betreibt einen schwungvollen Handel mit Faksimiles des Manuskriptes und selbstverständlich habe ich einige davon erworben. Die Worte, mit denen sich der erste Frosch mit der Brille der Welt zu erkennen gab, waren die folgenden:

Stets gütige und bezaubernde Prinzessin Dunkelauge,
keinem ist es gegeben zu entscheiden, ob Ihr denn gütiger seid als bezaubernd oder bezaubernder als gütig, und angesichts dieser Tatsache bin ich voller Hoffnung, dass Ihr es dem geringsten Eurer Untertanen verzeihen werdet, wenn er sich an Euch wendet, und Eure zweifellos wertvolle Zeit in Anspruch nimmt. Die Angelegenheit, derentwegen ich diese Zeilen an Euch richte, ist für mein Volk und auch für Euch, Lady Dunkelauge, von großer Dringlichkeit und Bedeutung. Verzeiht des weiteren, scharfsinnigste aller Prinzessinnen, wenn ich nun in meiner Rede aushole und vieles zur Sprache bringe, was Euch wohlbekannt sein wird,  aber Ihr sollt mich verstehen als Bittsteller von nicht geringer Geistesschärfe und Erfahrung, auch wenn Euch dies vielleicht seltsam erscheinen mag. Wohlan:
Jedes Kind kennt die Geschichte von der Prinzessin auf der Erbse und ich muss sagen, daß ist wirklich der größte Unsinn, der über Prinzessinnen verbreitet werden kann. Ich meine, wir wissen von Prinzessinnen, die wegen Steuerhinterziehung vor Gericht gestanden haben, aber welche Königstochter von einigermaßen klarem Verstand kümmert sich um Erbsen? Das zeigt nur wieder, daß die meisten Menschen heutzutage keine Ahnung von Prinzessinnen haben. Wenn es Prinzessinnen um irgendetwas geht, dann um ihren Prinzen. Einen, den sie ihrem Vater, dem König, zeigen können, ohne daß dieser den Auserwählten gleich enthaupten läßt. Denn die meisten sind tragische Opfer ihres Berufsstandes: Gut situiert, ausgestattet mit den teuersten Sportkutschen und einer großzügigen Apanage, umschwirrt von Verehrerinnen, haben sie keine Probleme, außer einem – das allerdings ist existentiell: Sie haben keine Probleme. Selbstverständlich sind da die Frauen und die Turniere, aber die hat man schnell über. Denn es gibt kein Turnier, bei dem man als Königssohn nicht schon vornherein als Sieger feststeht und nur wenige Frauen, die einem nicht jeden Wunsch erfüllen. Nun ist dies für einfache Gemüter (und von denen gibt es unter Prinzen mehr als genug, wie Ihr mir, Lady Dunkelauge, sicher bestätigen werdet) eine feine Sache. Sie leben in Saus und Braus, fühlen sich unglaublich gut dabei und werden umgehend vom Schwiegervater in spe enthauptet, sobald sie seiner Tochter zu nahe kommen. Prinzessinnen haben wirklich ernsthaftere Sorgen, als sich um Erbsen zu kümmern. Prinzessinnen stehen früh am Morgen auf und gehen spät schlafen, immer auf der Suche nach ihrem Prinzen. Die wenigen nennenswerten Exemplare sind leider sehr schwer zu finden. Aufgeweckt und abenteuerlustig wie sie sind, suchen sie stets neue Herausforderungen und dezimieren sich dabei auf besorgniserregende Weise. Die einen enden an den Klingen ihrer Kollegen, die anderen begeben sich auf absonderliche Missionen, wie zum Beispiel den gesamten Nahen Osten nach einem alten Becher abzusuchen, und dann gibt es noch jene, die meinen, zu alten Frauen mit Warzen auf der Nase frech sein zu müssen …
Von diesen, deren Zunge schneller war als ihr Verstand, muss ich reden, liebwerte Lady Dunkelauge, denn deren Schicksal betrifft Euch und unseren Tümpel. Ich bin mir dessen bewußt, mein Ansinnen könnte Eure holden Wangen röten, sie, die noch der Dichterworte harren, die ihrer würdig sind. Denn Eure Wangen erblühen nicht nur aus Scham, auch Freude oder Groll, Überraschung oder Ernüchterung röten sie so leicht, dass jeder gleich erkennen muss, welch zarte Seele sie beherbergen. Dennoch muss ich mein Begehren nun in Worte kleiden. Denn es gibt mittlerweile keinen Flecken mehr in unserem Tümpel, der nicht von diesen anstrengenden, wenn auch bedauernswerten Königssprösslingen besetzt wäre. Anstrengend? Oh, ja! Sie mögen vor ihrer Verwandlung ihre Qualitäten gehabt haben, bei uns haben sie mittlerweile den Status einer Landplage. Nichts, aber auch gar nichts passt ihnen: der Tümpel ist zu klein, das Essen ist widerlich, unsere Gesellschaft unerträglich und überhaupt komme nie Prinzessinnen vorbei … so jammern sie den ganzen Tag und gehen allen ausgiebigst auf die Nerven. Froschlich betrachtet, haben sie natürlich unser Mitleid, man stelle sich nur vor, als Frosch in einen Menschen verwandelt zu werden und darauf warten zu müssen, von einer Froschprinzessin geküsst zu werden … Wer je mit Froschprinzessinnen zu tun hatte, weiß, daß er da lange warten kann und besser gleich dem nächsten Storch ins Maul hüpft. Übrigens endeten die wenigen bekannten Fälle in denen ein in einen Menschen verwandelter Frosch das versucht hat, ebenso tragisch wie unfreiwillig komisch. Aber ich schweife ab. Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, gutherzigste aller Prinzessinnen, warum von so manchem Teich oder Tümpel plötzlich, wie aus heiterem Himmel ein infernalisches Gequake ertönt, daß einem die Fliegen aus dem Maul fallen könnten? Fragt nach Euren vorwitzigen Prinzen, und Ihr habt die Antwort! Der eine quakt, weil er glaubt, eine Prinzessin gesehen zu haben, der andere, weil er schon so lange keine mehr gesehen hat, und der Rest dieser verzogenen Bande macht natürlich jedesmal brav mit …
Genug davon, trotz allem sind jene, von denen hier die Rede ist, die Besten ihrer Art und deshalb muß etwas geschehen. Ihr müsst ja nicht jeden, dem Ihr seine frühere Gestalt zurückgegeben habt, gleich heiraten. Aber vielleicht findet sich einer unter ihnen, der Euch gefällt. Bis auf weiteres sehen wir jedenfalls davon ab, die Hexe zu bitten, die Herrschaften Prinzen in Fliegen zu verwandeln, vielmehr bitten wir Euch, mitfühlendste aller Prinzessinnen, doch so bald es Euch irgend möglich ist, zu uns zu kommen und Euch der lästigen Prinzen, die uns befallen haben, anzunehmen.

Hochachtungsvoll, Euer, Euch in tiefster Verehrung zugetane
Frosch mit der Brille, vom Tümpel am Waldesrand.

»Zu dumm«, seufzte die Prinzessin Dunkelauge, »wenn ich bloß wüsste, wie ich dem armen Frosch beibringen soll, daß ich nicht auf Männer stehe …«


[1] Martial, Epigrammata, XIV, 183 (Apophoreta). Übersetzung: Rudolf Helm, 1957.  Der »Mäonier« ist der Dichter Homer, dem nach seinem Tod ein Scherz-Epos namens »Froschmäusekrieg« zugeschrieben wurde.
[2] »Es ist hart, aber es geht!«
[3] Nymphaeus alba: Die weisse Seerose. Das weitaus haltbarere Mäusepergament war damals noch nicht üblich.

Von Menschen und Brettern

Der einzige Weg aus der Barbarei in die Dekadenz
führt über die Zivilisation.[1]

Vor eineinhalb Jahren kam es in unserem Tümpel zu einem rätselhaften Vorfall, der niemanden unberührt lassen sollte und auf das eifrigste bequakt wurde. Ob Blatt oder Stein, Wiese oder Tümpel, heimatlicher Bau oder abendliche Versammlung: das Rätsel füllte Münder, Ohren und Plätze; jederfrosch, jedefröschin postulierte, diskutierte und falsifizierte drauflos. Was war passiert? Ein junger Mensch, wohl in seinem zweiten Lebensjahrzehnt, war eines Tages direkt auf unseren Tümpel zugegangen, nicht sonderlich schnell, aber mit einem merkwürdigen, rechteckigen Ding vor den Augen, das er ohne Unterlass fixierte. Dieses blinkte, leuchtete und gab Geräusche von sich und beanspruchte die ganze Aufmerksamkeit des jungen Mannes. Unsere warnenden Zurufe erreichten ihn nicht, oder wurden von ihm nicht bemerkt, es kam, wie es kommen musste, er fiel – platsch! – kopfüber in den Tümpel. Soweit, so trivial. Dank unserer Jahrtausende währenden friedlichen Koexistenz mit den Menschen – Franzosen ausgenommen – sind sie uns keine unbekannten Wesen; und dass einer von ihnen in unseren Tümpel springt oder fällt, wäre, für sich genommen, nicht weiter beachtenswert gewesen. Was danach folgte, weckte allerdings unser Interesse. Der junge Mann hatte jenes Objekt, das seinen Unfall verursacht hatte, verloren, und, anstatt sich um sein eigenes Wohl zu kümmern, begann er sofort mit einer hektischen und immer verzweifelter wirkenden Suche nach diesem Ding. Nachdem seine ersten Versuche gescheitert waren, stapfte er endlich aus dem Wasser, aber begann schon kurz danach mit einer erneuten, systematischen Suche. Den Kopf vorgebeugt, bis zu den Oberschenkeln im Wasser, suchte er Quadratmeter um Quadratmeter jener Fläche ab, innerhalb derer er dieses Ding vermutete. Erst über eine Stunde später verließ er widerstrebend den Ort seines Verlustes, mit hängendem Kopf und von Gram gezeichneter Miene.
Was konnte das nur gewesen sein, was er verloren hatte? Warum hing das Herz dieses Menschen an diesem Ding, das ihn doch in Gefahr gebracht hatte, ihm geschadet hatte? Es musste irgendetwas uns bislang Unbekanntes sein, etwas, das unserem Blick aus dem Tümpel bisher entgangen war, aber möglicherweise von höchster Bedeutung für die Menschheit war. Der Zufall wollte es, dass ich dieses Ding am Grund des Tümpels entdecken sollte und sogleich mit einigen, der Sache dienlichen Untersuchungen beginnen konnte. Erstens, ich fand es leblos vor; möglicherweise unter Wasser nicht lebensfähig oder durch den Sturz verstummt. Zweitens: es war definitiv nicht essbar. Drittens, man konnte damit nicht Liebe machen. Diese Erkenntnis verdankten wir dem Bertl, den im darauffolgenden Frühjahr der Storch holen sollte. Er war in einem unbewachten Moment über das Ding hergefallen, doch blieben seine energischen Bemühungen, ob der Teilnahmslosigkeit und Unzugänglichkeit des Objektes seiner Begierde, ebenso wirkungs- wie erfolglos.
Da das Gerede in den folgenden Wochen nicht verstummen wollte, wurde das fragliche Ding schließlich der Quakademie der Wissenschaften übergeben, die umgehend eine Forschungskommission einsetzte, gebildet aus den hervorragendsten Gelehrten dieses Instituts. Diese arbeiteten zunächst einen Fragenkatalog aus:

1) Ist das Geschehene als repräsentativ für den heutigen Menschen zu bewerten? Oder handelt es bei dem Verhalten des jungen Mannes um einen bedauerlichen Einzelfall, etwa um eine individuelle Wertbeimessungsstörung, die keiner weiteren Untersuchung bedarf?
Für den Fall, dass ersteres zutrifft:
2) Handelt es sich bei diesem Ding um eine Sache oder ein Lebewesen? Ist sein Verstummen eine Funktionsstörung oder dem Ableben, etwa durch Ertrinken geschuldet?
3) In welcher Beziehung steht es zu dem heutigen Menschen? Erfüllt es einen erkennbaren Zweck? Steht es in sozialer Beziehung zum Menschen?
4) Ergeben sich aus der Klärung dieser Fragen irgendwelche Konsequenzen oder Gefahren für die Froschheit?

Die Gelehrten machten sich sofort ans Werk, zunächst sendeten sie Feldforscher aus, die gezielt nach Interaktionen zwischen dem Ding und dem Menschen Ausschau halten sollten. Unsere Späher kehrten nach etlichen Wochen zurück und legten ihre Beobachtungen der Kommission vor. Spannung lag in der Luft, die Froschheit schwieg gebannt. Dann die Verlautbarung: Ja, das Verhalten war repräsentativ! Alles weitere werde nach gründlicher Untersuchung, die noch wenigstens ein Jahr in Anspruch nehmen werde, veröffentlicht.
Letzte Woche war es dann endlich soweit. Die Untersuchungskommission der Quakademie der Wissenschaften lud zur Präsentation der Forschungsergebnisse ein, mit anschließender Diskussion der Ergebnisse. Der große Kuppelsaal war bis auf den letzten Platz gefüllt, man hätte den Flügel einer Stechmücke fallen hören können, als der Vorsitzende der Kommission, Alexander von Hupfoldt, an das Rednerpult trat: »Hohe Frösche und noble Hocker, Mitfröschinnen und -frösche. Meine Kollegen und ich waren sich der immensen Erwartungshaltung, die in uns gesetzt wurde, bewusst. Dennoch werden wir diese teilweise enttäuschen müssen. Manche Erkenntnis, manche zwingende Schlussfolgerung konnte zwar erarbeitet werden, in einer bestimmten Frage sahen wir uns jedoch ausserstande, eine eindeutige Antwort zu formulieren. Wissenschaftliche Redlichkeit bedingt Redlichkeit im Scheitern, sie steht über der Spekulation, von der dieser Bericht freibleiben sollte.
Die erste Frage, die wir uns stellten, ist bereits vor einiger Zeit beantwortet worden. Ja, das Verhalten dieses merkwürdigen jungen Mannes ist repräsentativ für die Menschheit gewesen, soweit sie von uns beobachtet werden konnte. Das fragliche Ding, von rechteckiger, flacher Form, einem kleinen Brett nicht unähnlich, wird von vielen Menschen mit sich geführt. Meistens hat es eine Größe, mit der es in eine menschliche Hand passt, zuweilen wurden auch größere Brettchen beobachtet, die eher von beiden Händen gehalten werden wollen, aber offenbar dem gleichen oder einem ähnlichen Zweck dienen. Vier von fünf Menschen halten, während sie sich in der Öffentlichkeit bewegen, derartige Bretter vor ihren Kopf, ihre Wahrnehmungsfähigkeiten werden dadurch massiv eingeschränkt. Entgegenkommende Menschen werden, wenn überhaupt, erst im letzten Moment beachtet, das gleiche gilt für Gefahren oder Hindernisse. Aber da sich der Mensch innerhalb seiner selbstgeschaffenen Habitate nur noch selbst ein Feind ist, hat dieses Verhalten keine ernsten Auswirkungen auf das Überleben seiner Population. Bedenklicher erscheint in diesem Zusammenhang, dass auch die sexuelle Interaktion durch diese Bretter behindert wird. Unsere Feldforscher haben unzählige Male beobachtet, wie junge, paarungswillige Männchen und Weibchen einander auf weniger als einen Meter nahekamen aber sich dennoch nicht den kleinsten Blick gönnten, sondern, die Augen fest auf das Ding in ihrer Hand gerichtet, unbeachtet aneinander vorübergingen. Welche Macht, fragte sich diese Kommission, angesichts solcher Verhaltensauffälligkeiten, hat dieses Ding über den Menschen, dass es imstande ist, einen so starken Trieb, wie den der Paarung zu unterdrücken? Was wird aus dem Menschengeschlecht, wenn es nur noch Augen für dieses Ding, nicht aber für den Partner hat, mit dem es das Leben sowohl erschaffen als auch feiern könnte?
Ich komme zur zweiten Frage, die uns gestellt wurde: Ist dieses Ding ein Objekt oder ein Subjekt, ein Gegenstand oder ein Lebewesen? Hierin ist sich die Kommission, abgesehen von einem votum separatum, das ich zu einem späteren Zeitpunkt ansprechen werde, einig: Es handelt sich um ein Lebewesen. Kein Gebrauchsgegenstand, kein Werkzeug könnte jemals eine derartige Bindung zu einer denkenden und fühlenden Kreatur erzeugen, sei sie nun Frosch oder Mensch, und derart viele Interaktionen auslösen wie diese ›Rectanguloiden‹, wie ich sie fortan nennen möchte. Mitfrösche und -fröschinnen! Man spricht nicht mit seinem Hammer oder seinem Schraubenzieher! Auch füttert man ihn nicht oder schützt ihn vor Nässe und Kälte, schon gar nicht nimmt man ihn überall hin mit und zeigt ihm die Sehenswürdigkeiten! Dieser Kommission liegen etliche Berichte vor, wie Menschen bemerkenswerte Anstrengungen vollführen, um ihren Schützlingen Bauwerke oder Geschehnisse aus einem vorteilhaften Blickwinkel zu zeigen, zugleich behandeln sie ihren Rectanguloiden dabei mit einer Achtsamkeit und Fürsorge, als ob er eines ihrer Jungen wäre. Wenn er Hunger hat, wird umgehend ein Futterplatz aufgesucht – die Rectanguloiden werden mittels dünner Schläuche ernährt, die mit den überall vorhandenen Ausgabestellen verbunden werden; wenn er schreit, wird besänftigend auf ihn eingeredet; manchmal auch zornig, wenn er zu oft oder zu unpassender Gelegenheit geschrieen hat. Wenn er still ist, wird regelmäßig nachgeschaut, ob er sich wohl befindet. Und das abgesehen von den vielen Stunden, in denen sich der Mensch ohnehin auf innigste Weise mit seinem Rectanguloiden beschäftigt, ihn still und reglos anstarrt, als ob die Welt um ihn herum nicht existierte.
Was den, in unseren Tümpel gefallenen Rectanguloiden zum Verstummen gebracht hat, wurde mit dem Gesagten bereits angedeutet. Es handelte sich um Tod durch Ertrinken, es konnte zweifelsfrei festgestellt werden, dass diese Lebensform äußerst empfindlich auf Wasser reagiert und unter Wasser nur wenige Sekunden überleben kann.
Ich komme jetzt zu dem Teil, in dem sich die Kommission nicht einigen konnte. Zu der Frage, in welcher Beziehung dieses Lebewesen zu den Menschen steht. In dieser Frage sind wir, die Untersuchenden, in zwei Lager gespalten. Das eine Lager hält die Rectanguloiden für Außerirdische, die daran arbeiten, die Menschheit zu versklaven; das andere Lager, zu dem ich mich zähle, hält sie für Parasiten, die sich erfolgreich beim Menschen eingenistet haben. Aber weder ich, noch meine verehrten Kollegen vom gegnerischen Lager können ihn ein Faktum oder Indiz nennen, das geeignet wäre, der eigenen Theorie den Vorzug zu geben. Beide erklären die beobachteten Fakten, ein Geheimnis bleibt der eigentliche Grund für diese rätselhaften Fixierung des Menschen auf seinen Rectanguloiden. Meine Fraktion denkt an Pheromone, die diese Parasiten verströmen und damit ihren Wirt willenlos machen; unsere Gegner wenden ein, dass eine höhere Species ihre Mittel und Wege hat, eine niedrigere zu manipulieren, etwa durch Hypnose. Auch wäre diese Art der Unterwerfung eine äußerst elegante, da sie von den Unterworfenen gar nicht bemerkt wird. In einem anderen Punkt sind wir uns einig: In der Zeit, in der der Mensch wie betäubt auf seinen Rectanguloiden fixiert ist, findet die Manipulation statt. Wie, wissen wir nicht. Fest steht, der Mensch kommuniziert mit seinem Rectanguloiden währenddessen durch Klopfzeichen, die sichtlich beantwortet werden. Der Gegenstand dieser Erörterungen ist uns ebenfalls bekannt. Es sind die trivialsten Fragen des Daseins! Kein noch so alltägliches Unterfangen wird begonnen, bevor nicht der Rectanguloide um Rat befragt worden wäre! Der Mensch, dessen hervorragendste Eigenschaft es bisher gewesen ist, Antworten zu finden, sucht sie nicht länger, sondern läßt sie sich geben. Er hat seinen kritischen Geist an eine fremde Lebensform delegiert; eine erschütternde Erkenntnis, denn das bedeutet, dass der Mensch im Begriff ist, seine Fähigkeit zum selbständigen Denken zu verlieren!
Ich komme zur letzten Frage, die dieser Kommission vorgelegt wurde: Besteht Gefahr für die Froschheit? Dies kann entschieden verneint werden. Abgesehen von Unfällen, wie jenem, der auslösend für die Untersuchung war, sind die Rectanguloiden keine Bedrohung für unseren oder einen anderen Tümpel. Im Gegenteil, die  durch sie bewirkte eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen kann für uns Frösche nur von Vorteil sein. Wenn sie eine Gefahr darstellen, dann für die Menschen. Unsere Feldforscher haben von weiteren besorgniserrregenden Änderungen im Sozialverhalten berichtet. Beispielsweise suchen die Menschen zwar noch immer ihre Versammlungsorte auf, aber immer mehr von ihnen interagieren nicht länger miteinander, sondern nur noch mit ihrem persönlichen Rectanguloiden. Bedenklich erscheint mir auch der Umstand, dass die Rectanguoiden in den Händen von immer jüngeren Menschen entdeckt werden; ein Faktum, aufgrund dessen ich Anhänger der parasitären Theorie bin.
Abschließend sehe ich mich gezwungen, näher auf das erwähnte votum separatum einzugehen. Gerne hätte ich vermieden, dass der Schatten der Unwissenschaftlichkeit auf diesen Bericht fällt; bedauerlicherweise war ein Mitglied dieses Gremiums der argumentativen Kraft der Logik nicht zugänglich, und hat vielmehr auf der Publikation seiner, durch kein Sachargument gestützten Theorie beharrt. Laut Dr. Quagrobius sind sämtliche Erkenntnisse, die von dieser Kommission erarbeitet wurden, ›keine Schmeißfliege wert‹. Seiner Meinung nach sind die Rectanguloiden mitnichten Außerirdische oder Parasiten, sondern Instrumente, Werkzeuge, die sowohl der zwischenmenschlichen Kommunikation als auch der Wissensvermehrung dienen! Dr. Quagrobius schwebt eine Art von fernmündlicher Kommunikation vor, für die er allerdings nicht den kleinsten Anhaltspunkt vorlegen konnte. Nun bin ich zwar, aufgrund der Statuten dieses Hauses verpflichtet, diese Meinung, die von keinem anderem Kommissionsmitglied geteilt wird, vorzutragen, aber wahrlich nicht, sie gutzuheissen. Gestatten sie mir dazu einige Fragen: Zunächst einmal, warum sollte jemand, der kaum ein Wort mit seinen Artgenossen wechselt, sie auf jede erdenkliche Weise ignoriert, der also erwiesenermaßen kommunikationsunwillig ist, ein Kommunikationswerkzeug benützen? Und sollten wir es tatsächlich mit einem Werkzeug zu tun haben, dann müsste dieses doch den Zweck, den es angeblich hat, erfüllen, da es sonst nicht benützt würde. Die weite Verbreitung und Beliebtheit des Untersuchungsgegenstandes konnte, wie berichtet, über jeden Zweifel erhaben bewiesen werden. Ist es also ein Werkzeug, wie Dr. Quagrobius uns einreden will, dann müsste eine Verbesserung in der zwischenmenschlichen Kommunikation und eine Zunahme des Wissens unter den Menschen feststellbar sein. Das glatte Gegenteil, verehrtes Auditorium, ist der Fall. Gerade jene Menschen, die dieses sogenannte Werkzeug häufig benützen, verhalten sich besonders ungesellig und denkfaul. Sie sind sich selbst genug; die wenigen Fragen, die in ihrem, von Unterforderung verkümmerten Verstand noch aufflackern, werden umgehend in ihr Brettchen geklopft; und diesem vertrauen sie blind. Wie erklärt es mein Kollege, dass seine, von ihm imaginierten Geistesriesen gegen Glastüren rennen oder in ihre Artgenossen hinein? Dass sie ihr Werkzeug fragen müssen: ›Wo bin ich?‹ oder gar ›Was soll ich essen?‹ Warum bringen, die von ihrem Wissensvermehrer Erleuchteten kaum geistreichere Wortspenden hervor, als ›fein‹ oder ›heiss‹ oder ›geil‹? Bei meiner Liebe zum Widerspruch! Wer sich weigert, die Unlogik dieses votum separatum anzuerkennen, wird wohl selbst bald einen Rectanguloiden nötig haben!
Verehrtes Auditorium, ich komme zum Schluss: Für die Froschheit besteht keinerlei Gefahr durch die Rectanguloiden. Dennoch sollten wir die Mahnung, die in dem traurigen Abhängigkeitsverhältnis der Menschheit enthalten ist, beherzigen. Eine Macht, die imstande ist, den Menschen von seinem bisherigen normalen, sinnerfüllten und sinnesfreudigen Leben abzubringen, gibt Anlass zu höchster Sorge. Umso mehr, als uns die eigentliche Ursache unbekannt ist. Bleiben wir wachsam, untersuchen wir die Sache weiter, auf dass es uns nicht eines Tages so ergehe wie den Menschen. Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.«

© Tom F. Lange, 2018


[1] Claude Lelouch. Die Entführer lassen grüßen. Frankreich, Italien, 1972. Originaltitel: L’aventure, c’est l’aventure.

Eilt-Meldung: Von Deutschkursen für Inländer

Die Entscheidung, ob Landbauer aus der Partei ausgeschlossen
werden beziehungsweise sich überhaupt aus der Politik
zurückziehen soll, ist für Kurz eine Sache der
niederösterreichischen FPÖ, wie er auf Nachfrage erklärte.

»Sie können sich vorstellen, dass ich für mich in der ÖVP weiß,
wie ich die Entscheidung treffen würde.«[1]

Schade. Ich für mich, in meinem Deutsch, kann mir nicht vorstellen, wie Sebastian Kurz seine Entscheidung treffen würde. Ich wüsste es aber gerne. Denkt er an einen Münzwurf? Oder an »Schere, Stein, Papier«? Auszählreime, etwa: Ene, mene, mu, und drausst bist du? Vielleicht ist auch, bei  einem gestandenen Katholiken wäre das verständlich, an ein Gottesurteil, an einen Wettstreit zweier Kombattanten gedacht. Ein Sackhüpfen gegen den Vizekanzler, im Mittelgang des Stephansdoms? Man weiß es nicht. Das Land hält den Atem an: Wann wird unser Bundeskanzler seinen ersten geraden deutschen Satz herausbringen? Lange Hosen darf er ja schon tragen. Hat er, wie schon öfter, etwas anderes gemeint als er gesagt hat? Warum gibt es keine Deutschkurse für Amtsträger? Wurde wieder einmal an der falschen Stelle gespart? Bange Fragen, wenige Antworten.
Schade auch, dass die Beherrschung der deutschen Sprache zur Schulzeit  der Gulaschkanone unter den Sprachakrobaten[2]noch nicht Voraussetzung für den Besuch des Regelunterrichtes war. Der jüngst erfolgte Regierungsbeschluss kam, knapp aber doch, zu spät für ihn. Andererseits sollte der Bildungsminister diese Maßnahme besser noch einmal überdenken. Will er, der Parteikollege, das wirklich, dass bereits in wenigen Jahren nicht nur die meisten Inländer, sondern auch Heerscharen von ausländischen Kindern besser Deutsch können als der Bundeskanzler? Aber vielleicht gestattet er diesem ja per Ministerdekret den Besuch einer separaten Deutschklasse. Türkis für Anfänger, sozusagen. Dann bliebe dem, von der eigenen Sprache so derb gebeutelten jungen Mann vielleicht manche Peinlichkeit erspart.

© Tom F. Lange, 2018


[1] Quelle: derstandard.at, 31.1.2018, 08:34 Uhr.
[2] Siehe meinen Artikel: Von den zwei Gesichtern des Ianuarius.

Satyrisch-satirische Betrachtungen einer Amphibie von schwacher Sehschärfe

Es war einmal ein Frosch. Der lebte an einem schlammigen Tümpel und betrachtete die Welt. Meistens musste er dabei – als der Laubfrosch, der er war – hoch nach oben schauen, aber das störte ihn nicht. Es war seine natürliche Perspektive. Schräg von unten blinzelte er nach oben – zuweilen in der Sicht behindert, durch Schilf, Schlammspritzer auf der Brille oder herumschwirrende Insekten. Der Frosch mit der Brille quakte gerne und er quakte viel, und da er nicht gestorben ist, quakt er noch heute: Immer dann, wenn etwas geschieht, das selbst in seinem Tümpel Wellen schlägt. Viel Spaß beim Lesen!

Archiv