Satyrisch-satirische Betrachtungen einer Amphibie von schwacher Sehschärfe

Es war einmal ein Frosch. Der lebte an einem schlammigen Tümpel und betrachtete die Welt. Meistens musste er dabei – als der Laubfrosch, der er war – hoch nach oben schauen, aber das störte ihn nicht. Es war seine natürliche Perspektive. Schräg von unten blinzelte er nach oben – zuweilen in der Sicht behindert, durch Schilf, Schlammspritzer auf der Brille oder herumschwirrende Insekten. Der Frosch mit der Brille quakte gerne und er quakte viel, und da er nicht gestorben ist, quakt er noch heute: Immer dann, wenn etwas geschieht, das selbst in seinem Tümpel Wellen schlägt. Viel Spaß beim Lesen!

Archiv

Über das Licht am Ende des Tunnels

Lange schon wollte ich einem alten Vorurteil den Garaus machen, lange habe ich mit mir gerungen, in meinem Tümpel unschlüssig herumgeplantscht, ob nicht die Zeit gekommen wäre, in die Welt hinauszutreten und meine Botschaft zu verkünden. Froschlich betrachtet hattet ihr Menschen ja schon längst mein Mitleid, aber jede Botschaft braucht nun einmal – sofern sie vernehmlich gehört werden will – ihren Anlass. Das wusste ich und zögerte.
Doch nun ist der Tag und nun ist die Stunde. Denn, wie schon einmal erwähnt, es ist nie ganz richtig, etwas für ganz falsch zu halten – nicht einmal in der Politik. Also, Ihr Genervten, Geprellten und Geschorenen – merket auf und frohlocket: Das Land, in dem Ihr lebt, ist seit jeher ein Land von Propheten, die Euch führen und trösten – selbst in Euren dunkelsten Stunden! Einer sagte einmal: Es ist alles sehr kompliziert, und siehe – er hat Recht behalten. Ein anderer meinte: Ihr werdet euch noch wundern, was alles geht, und siehe – am Ende staunte er selbst am meisten. Aber ich rede nicht von diesen, sondern von dem größten Propheten unserer Tage, von IHM, der seine Sehergabe schon mehrfach unter Beweis gestellt hat. Einst meinte er beispielsweise, seine damalige Koalition habe ihre Reiseflughöhe erreicht[1], und siehe – es ging tatsächlich nicht mehr weiter nach oben, sondern abwärts, Richtung Ibiza.
Habt also Vertrauen und glaubt Euren Propheten – selbst wenn sie glattwangig sind und in eng anliegenden Kostümen daherkommen. Auch blinde Babyelefanten finden ein Korn. Sie brauchen weder Bärte noch wallende Gewänder – dennoch – die Wahrheit perlt ihnen nur so von den Lippen. Denn siehe – das Licht am Ende des Tunnels ist da! Eine Ära geht zu Ende. Man wird von ihr sagen, dass sie kurz war. ER selbst (Wer, wenn nicht ER?) hatte uns dies vor geraumer Zeit in Aussicht gestellt – ein anderer dieser Erleuchteten sah noch schärfer in die Zukunft und kondolierte gleich vorab: Shorty ur arm[2]. Halleluja!

© Tom F. Lange, 08. 10. 2021


[1] Kurz: »Reiseflughöhe erreicht«.

Rund ein Jahr nach der Nationalratswahl, bei der die ÖVP das Kanzleramt zurückerobert hat, hat Regierungschef Kurz heute in Wien eine Rede mit Bilanz und Ausblick gehalten. (…) Heute sei die »Reiseflughöhe« erreicht, man sei mit vollem Tempo unterwegs, das Regierungsprogramm umzusetzen, … ORF-Teletext, 13.10.2018, 13h 20:

[2] »Shorty ur arm«. Gastronom Ho und sein Draht ins Kanzleramt. www.derstandard.at, 28. 09. 2021.

Übersiedlungsnotiz

Für jene, die ihn noch nicht kennen: Der Frosch mit der Brille liefert seit dem Jahr 2017 Beiträge und Kommentare zu mehr oder weniger aktuellen Themen aus Politik und Gesellschaft. In unregelmäßigen Abständen, zuletzt mit dem unten stehenden Coronauten-Logbuch, das während des ersten österreichischen Lockdowns entstanden ist. Alle Beiträge seiner alten Website wurden hierher transferiert (siehe Archiv). Weitere Beiträge werden bei Gelegenheit folgen.

Tom F. Lange

Wir Coronauten. Logbuch-Eintrag Nr. 19

Der Frosch mit der Brille hatte mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich habe seinem Ansinnen, so gut es gegangen ist, Folge geleistet. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das geschafft habe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erschienen sind. Tom F. Lange, im Mai 2020

Tag 54: Ich gehe von Bord

Das Coronauten-Logbuch wird hiermit geschlossen. Um in der Metapher zu bleiben: Das Schiff ist zwar noch nicht in einem Hafen angelangt, aber auch nicht mehr auf hoher See. Es dümpelt herum, unschlüssig, wohin die Reise gehen soll. Ich will seinem Kurs nicht länger folgen. Ich verlasse das Schiff, um auf einem anderen anzuheuern – auf welchem, werden die nächsten Wochen zeigen.

Nun hisst die Segel meines Geistes Boot,
Durch bess’re Fluten steuernd vorzudringen,
Und flieht das Meer, das schreckensvoll gedroht.[1]

Dante Alighieri hat sich an dieser Stelle seiner Divina Commedia gerade am Hintern von Lucifer vorbeigezwängt, im innersten Kreis der Hölle, und betritt nun, im Mittelpunkt der Erde, den Fuß des Läuterungsberges, den er, geleitet von seinem Führer Vergil, zu erklimmen hat. Ganz so dramatisch wird es bei mir nicht zugehen, aber meines Geistes Boot sehnt sich ebenfalls nach bess’ren Fluten, in die es – steuernd vorzudringen – aufbrechen will.
Ich danke allen Leserinnen und Lesern meines Logbuchs herzlichst für ihr Interesse und ihre motivierenden – wie inspirierenden – Kommentare. Gehabt euch wohl!

© Tom F. Lange, 08. 05. 2020


[1] Dante Alighieri. Göttliche Komödie. In deutsche Terzinen übertragen von Richard Zoozmann. Der Läuterungsberg, Erster Gesang. https://www.divina-commedia.de

Wir Coronauten. Logbuch-Eintrag Nr. 18

Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten.

Tag 47: Schädelfetzen

Mein Kopf ist leer. Als ich ihn aufforderte, eine Idee für den vorliegenden Logbuch-Eintrag zu entwickeln, passierte — nichts. Und seither deutlich weniger. Ein Astronaut, der in der Leere des Weltraums mit einem Schmetterlingsnetz auf die Jagd geht, sammelt mehr Substanz, als mein Geist momentan zu bieten hat. Sollte ich jemals auf die Idee verfallen, nach dem Staubsaugen den Boden zu fegen, wird das auf dem Kehrschauferl zusammengetragene Ergebnis immer noch gehaltvoller sein als das, was mein Verstand gerade hervorbringt. Ein nichtsigeres Nichts als das Nichts, das sich in meinem Kopf befindet, gibt es nicht. Die Leere ist so groß, dass sie nicht einmal mehr gähnen kann. Sie ist ein Nichts, dem nichts hinzuzufügen ist. Und sie ist widerwillig. Sie ist nicht nur nichts, sie will nichts sein. Winzige Fragmente von Gedanken wabern darin umher, verschlissen, ohne Zusammenhang. Treffen sie zufällig aufeinander, prallen sie, gleichsam entsetzt, voreinander zurück, wie ein frisch getrenntes Pärchen, das sich unversehens beim Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten über den Weg läuft. Aber dieses hätte sich mehr zu sagen als jene Fragmente. Sie flüchten, ihre Wortfetzen an sich raffend, in entgegengesetzte Richtungen, ohne beim anderen oder in der Leere die sie umgibt, die geringste Resonanz auszulösen, wissend, dass sie – die sie nichts sind – nichts werden können, dass sie nur die unnützen Reste bereits verarbeiteter Gedanken sind, nichtiger als die Schaumränder in einem geleerten Bierglas, als der Brösel eines Brösels eines Brösels, als der Darmwind einer überfressenen Raupe. So wenig sie selbst sind, sie wären vereint noch viel weniger. Denn sie entstammen nicht nur unterschiedlichen Denkwelten, sie sind oft nicht einmal aus der gleichen Galaxie. Kein noch so brillanter Verstand könnte sie jemals zu einem kohärenten Gedanken verbinden. Das wollen sie auch gar nicht. Sie kauern zitternd in ihren Ecken, den Kopf gesenkt, wie unvorbereitete Schüler an ihren Pulten. Zwischen ihnen befinden sich unüberwindbare Weiten kalter Leere in meinem Schädel; ein gigantisches, nicht respondierendes Vakuum; eine substanzlose, dennoch träge Ausdehnung, in die kein Blitz jemals einschlagen wird, geschweige denn, dass sie von selbst einen hervorbrächte; ein teigiges Nichts, das niemals aufgehen kann, da es nichts enthält. Mit anderen Worten: Es fällt mir nichts mehr ein.
Mein Coronauten-Logbuch und der hiermit fällige Eintrag stehen in einer Reiz-Losigkeit vor mir, die wahrlich erhaben ist, die alles, was mir auf dieser Welt jemals gänzlich reizlos erschienen ist, in ungeahnter Pracht erblühen lässt. Der Zeitpunkt, meine Wohnung zu putzen, ist gekommen.
Aber, wenn es nicht nötig ist, etwas zu tun, ist es nötig, es nicht zu tun, sagte einmal ein kluger Mensch. Wenn es also nicht möglich ist, etwas zu sagen, ist es möglich, nichts zu sagen! Die Alternative existiert. So wenig sie auch genutzt werden mag. Ich gebe hiermit kund und zu wissen, dass ich sie nutzen möchte. Lieber sage ich nichts, bevor ich nichtssagend werde. Tom F. Lange, over and out!

© Tom F. Lange, 2020

P.S.: Ich lege hiermit eine Pause ein. Das Coronauten-Logbuch wird mit voraussichtlich einem Beitrag pro Woche fortgesetzt werden, ab nächstem Freitag, 17 h. Tom F. Lange, im Mai 2020

Wir Coronauten. Logbuch-Eintrag Nr. 17

Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020

Tag 44: Alu-Hut auf?

Als das Internet noch in seinen Windeln lag, stürzten die Server beinahe ebenso oft ab, wie erstere einen Wechsel brauchen. Die Fehlermeldung eines österreichischen Providers dazu lautete: »Es ist nie ganz richtig, etwas für ganz falsch zu halten.«
Aus der Sicht der Logik kann man die Bekämpfung einer Seuche in vier Kategorien unterteilen: Man kann a) aus den falschen Gründen das Falsche machen, b) aus den falschen Gründen das Richtige machen, c) aus den richtigen Gründen das Falsche machen und d) aus den richtigen Gründen das Richtige machen.
a) Wie man aus den falschen Gründen das Falsche macht, zeigt das Beispiel des pharmakos aus der griechischen Antike, besser bekannt als Sündenbock. In antiken Städten brachen Seuchen meistens im Sommer aus. So man sich nicht absolut sicher war, dass man gerade einen anderen Gott beleidigt hatte, wurde von Apollon als Verursacher ausgegangen, der seine giftigen Pfeile, die Sonnenstrahlen, ja schon auf das Heer der Griechen vor Troja abgeschossen hatte.[1] Also suchte man sich einen Menschen, der diesen Zorn auf sich zu nehmen hatte und, mit den Sünden der Menschen beladen, aus der Stadt verjagt, möglicherweise auch erschlagen wurde.[2] »Gewirkt« hat es zuweilen trotzdem. Aus bloßem Zufall, oder, häufiger, weil  zwischen der Wahl des pharmakos und seiner Austreibung zu einem bestimmten Festtag genügend Zeit verstrichen war. Denn im Spätsommer oder Herbst kamen die Seuchen meist von selbst zum Erliegen.
Damals wusste man es nicht besser, heute könnte man es besser wissen, muss man aber nicht. Man kann sich auch einen Alu-Hut aufsetzen, um »frei denken« zu können, wie eine folienbehütete Frau anläßlich einer »Anti-Corona« Demonstration in Wien erklärte,[3]oder mit Bleichmittel gurgeln, weil man Donald Trump glaubt.[4]
b) Aus den falschen Gründen das Richtige machte man jahrhundertelang bei der Bekämpfung von Krankheiten, die durch Stechmücken übertragen werden. Vom Übertragungsweg hatte man keine Ahnung; das »Wechselfieber«, später Malaria genannt, erklärte man sich mit den giftigen Ausdünstungen, der mal’aria, der schlechten Luft, wie sie aus Sümpfen emporstieg. Also legte man die Sümpfe trocken, beseitigte die »giftigen Miasmen« und besiegte damit das »Wechselfieber«.
Zu c) und d): Die WHO erklärte letzten Sonntag, dass eine Immunisierung der vom Coronavirus Genesenen bislang nicht bewiesen ist;[5] ob Kinder weniger gefährdet sind oder nicht, wird derzeit intensiv diskutiert, aber gerade erst erforscht, etc. Das heißt, ob wir derzeit aus den richtigen Gründen das Falsche oder das Richtige machen, werden wir mit letzter Sicherheit erst in Monaten oder Jahren wissen. Markige Sprüche in die eine oder andere Richtung ändern daran gar nichts.
Seit neuestem begegne ich immer mehr Menschen, die sich offenbar selbst immunisiert haben, fraglich ist nur, wogegen. Zu zweit oder zu dritt latschen sie nebeneinander auf dem Gehsteig auf mich zu (in einer Ignoranz, wie ich sie sonst nur von Feuilleton-RedakteurInnen kenne), ganz so, als ob weder das Virus noch ich existent wären. Vielleicht hat die Frau mit der Alufolie am Kopf doch irgendwie recht. Es ist nie ganz richtig, etwas für ganz falsch zu halten: Mit so einem schicken Alu-Hut am Schädel kommt mir garantiert niemand mehr zu nahe!

© Tom F. Lange, 2020


[1] Homer. Ilias, I, 43 ff.

[2] Die rituelle Tötung des pharmakos ist umstritten. Siehe dazu: Dennis D. Hughes. Human Sacrifice in Ancient Greece. Routledge, Oxon 1991. Digital Reprint 2006. The Pharmakos and related Rites, S.139 ff.

[3] Mit Aluhut gegen Corona und die Regierung. www.derstandard.at, 26.4.2020, 09:51 h.

[4] Mehr Giftnotrufe nach Trumps Äußerungen zu Einnahme von Desinfektionsmitteln. www.derstandard.at, 26.04.2020, 09:03 h.

[5] WHO: Kein Beweis für Immunität. ORF Teletext, S. 102, 26.04. 2020, 12:44 h.

Wir Coronauten. Logbuch-Eintrag Nr. 16

Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020

Tag 42: Super, das neue Normal?

Begriffe besetzen ist einer der ältesten werblichen Tricks der Welt. Im Jahr 1917 verwendete die Zigarettenmarke Lucky Strike erstmals den Slogan »It’s Toasted« in ihrer Werbung. Das Unternehmen wies damit auf ihr neu entwickelte Röstverfahren hin, welches das bis dahin übliche Trocknen der Blätter in der Sonne ablöste. Alle anderen Hersteller zogen bald technisch nach, der Lucky Strike Slogan blieb jedoch jahrzehntelang auf der Packung, ganz so, als ob sie damit nach wie vor die einzigen wären. Der gelernte Österreicher kennt das. Wenn deutschnationale Burschenschafter Österreich gebetsmühlenartig als »Heimat« bezeichnen, geht es um nichts anderes. Welche konkreten Absichten mit der begrifflichen Besetzung des Landes einhermarschieren, bleibt freilich unklar.
Im Land der Ohrenkakteen (und Gartenzwerge) ist in diesen Tagen viel von einer »Neuen Normalität« die Rede. Immerhin, dort wo das »Neue Normal« ins Absurde abbiegt, ist es in der Tat super: Wenn die rechtspopulistische Opposition der Regierung neuerdings »Angstmache« und die »Errichtung eines Überwachungsstaates« vorwirft – also ihr ureigenstes Metier –, dann freut sich der Satiriker. Dennoch verdienen die Wortspenden Aufmerksamkeit, so lustig – oder naiv – sie einem scheinen mögen. Im Grunde beschweren sich die Leutchen gerade darüber, dass ihnen die Butter vom Brot genommen wird – und das sollte aufhorchen lassen.
Mit der »Neuen Normalität« habe ich gleich mehrere grundsätzliche Probleme. Sprachlich gesehen, kann etwas entweder normal sein oder neu. Was neu ist, kann nicht normal sein, da es bislang unbekannt war. Was normal ist, kann nicht neu sein, da es bereits bekannt ist. Die Absicht hinter dieser originellen Begriffsbildung ist wohl die euphemisierende Charakterisierung von Geboten und Einschränkungen als »Normalität«. Es ist eh nichts passiert, liebes Volk, ängstige Dich nicht, alles ist normal …
Womit ich bei meinem zweiten Problem bin: Ich werde grundsätzlich skeptisch, wenn man mir erklären will, was als »normal« zu gelten hat und was nicht. Die vielbemühte »Normalität« wird gerne als Positivum präsentiert, ungeachtet der Tatsache, dass es historisch gesehen schon viele »Normalitäten« gegeben hat, die längst nicht alle erfreulich waren. »Normalität« bezeichnet lediglich eine Norm, und damit etwas, das in der Vergangenheit entstanden ist; Gesellschaften hingegen befinden sich im Umbruch. Was gestern normal war, ist es heute nicht mehr und vice versa, das kann positive, aber auch negative Konsequenzen haben.
Einschränkungen der Freiheitsrechte, der Erwerbsmöglichkeiten und der Lebensführung können in Österreich jedoch unter gar keiner, wie auch immer gearteten Sichtweise als »Normalität« bezeichnet werden, auch nicht als »Neue«!
Drittens gefällt mir ganz und gar nicht, wer der Prediger dieser »Neuen Normalität« ist. Unser Bundeskurzer hat schon früher Ausflüge ins Absolutistische unternommen – sei es aus Unverstand, sei aus Neigung, ich weiß es nicht. Seine Parteikollegin auf europäischer Ebene, die vielgeschmähte Angela Merkel, nannte die Einschränkungen hingegen eine »demokratische Zumutung«,[1] – und hat damit das Wort ausgesprochen, das längst fällig war.

© Tom F. Lange, 2020


[1] »Pandemie ist »demokratische Zumutung«, ORF, 23.04. 2020, 13:41 h, https://orf.at/stories/3163002/

Wir Coronauten. Logbuch-Eintrag Nr. 15

Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020

Tag 40: Ein angsteinflößender Auftrag

Meine selbstgeschneiderte Maske und ich machen Fortschritte. Ich entdecke die Langsamkeit, entschleunige mich in einem, mir bisher nicht bekannten Ausmaß, wenn ich an ihr arbeite. Sie wird mir sicher gute Dienste leisten – bei der nächsten Pandemie.
Ich gehe los – ein Provisorium will erworben werden. Die Schneiderin, bei der meine Freundin Kundin ist, hat recht ansprechende Masken in der Auslage liegen. Wir sind flüchtig miteinander bekannt, bei meinem letzten Besuch hat sie mich gefragt, wie es mir mit meinem Buch gehe. Es sei fertig, antwortete ich damals, allerdings fehle mir noch ein Verlag. »Schreiben Sie ein Zweites!«, meinte sie daraufhin, mit Hinweis auf das Lehrgeld, das ein jeder zu zahlen habe, etc. Sie ist Pragmatikerin, und, wie die meisten Pragmatiker, ein konsequenter Tatmensch. Wenn A passiert, dann mache B. Jammern bringt nix. Leistung zählt. Ich mag sie irgendwie.
Eine Maske ist schnell gefunden; ein nicht abgeholter Hut meiner Freundin wird mir (dessen Geschlecht ihn für Boten- und Chauffeurdienste prädestiniert) übergeben; Zeit für Small-Talk.
»Und? Schreiben Sie schon an ihrem zweiten Buch?« Oho, sie hat sich gemerkt, worüber wir beim letzten Mal geredet haben! Ich zögere. Hatte ich etwas missverstanden? War ihr seinerzeitiger Rat gar keiner gewesen, vielmehr eine Aufforderung, die ich ignoriert habe? Ich verweise unsicher auf die derzeitige Krise und mein Coronauten-Logbuch. Schon greife ich zu meiner Brieftasche, um eine Visitkarte zu zücken, mit der Adresse meiner Website, da erkenne ich – auch durch ihre Maske hindurch – wie sich ihre Mundwinkel bedrohlich senken: »Also nein, über diesen Mist brauchen Sie nichts schreiben,« ruft sie sichtlich verärgert aus, »das will niemand lesen! Schreiben Sie etwas Schönes!«
Ich weiche zurück, vor dem Abgrund, der sich unversehens unter mir aufgetan hat, zahle schleunigst und flüchte. »Etwas Schönes schreiben«, was, zum Teufel, soll ich damit anfangen? »Schreibe schön!?« Da erschieße ich mich lieber, bevor ich das in das Pflichtenbuch meines Schaffens eintrage. Und für den entsprechenden physischen Akt fehlt mir ohnehin das Talent: Meiner Handschrift zufolge bin ich Arzt. Martial geht mir durch den Kopf:

Du deklamierst schön, Prozesse führst du, Atticus, schön,
schöne Geschichten, schöne Gedichte machst du,
verfasst schön Mimen, Epigramme schön,
schön bist du als Philologe, schön als Astrologe,
und schön singst du und du tanzt, Atticus, schön,
schön bist du in der Lyrakunst, schön bist du in der Ballkunst.
Obgleich du nichts gut machst, aber alles schön machst,
willst du, dass ich dir sage, was du bist?
Du bist ein großer Dilettant![1]

So ist es. Der schöpferische Akt kennt nur richtig oder falsch, gut oder schlecht. Für alles Weitere bin ich nicht zuständig, will es nicht sein. Rezeption ist Glückssache. Eine Lektorin meines Buches sagte mir, in Bezug auf eine, inhaltlich recht harmlose Passage, sie habe diese als ekelerregend empfunden. Ich dankte ihr mit meinem strahlendsten Lächeln. Ich fand es schön, bei ihr die Emotionen geweckt zu haben, die ich erwecken wollte. Sie nicht.
Aber was sag’ ich der Schneiderin, wenn ich sie das nächste Mal sehe?

© Tom F. Lange, 2020


[1] Marcus Valerius Martialis. Epigramme, Buch II, 7. Aus: Martial. Epigramme. Übersetzt von Rudolf Helm. Artemis Verlags AG, Zürich 1957.

Wir Coronauten. Logbuch-Eintrag Nr. 14

Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020

Tag 37: Frühling für Misanthropen

SCHEICHENBREIN: Was, Wopraschal, sagen Sie zur Corona-Krise?
WOPRASCHAL: I fürcht mi.
SCHEICHENBREIN: Verstehe, die Gefahr der Infektion, ein stattlicher, älterer Herr wie Sie, starker Raucher zudem …
WOPRASCHAL: Aber na! I wünschad ma ja, dass i infeziert warad, dann warad i in Quarantäne!
SCHEICHENBREIN: Was, Wopraschal? Das wünschen Sie sich? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
WOPRASCHAL: Aber ja! Dann hätt i endlich mei Ruah!
SCHEICHENBREIN: Aber die Isolation, Wopraschal, der mangelnde Zuspruch, tät’ Ihnen das denn gar nichts ausmachen?
WOPRASCHAL: Na! I brauch kane Menschn, bin froh, wann i niemand sehn muass. (lacht) Und wann i an Zuspruch ham wüll, dann pflanz i die Krankenschwester!
SCHEICHENBREIN: Das ist aber nicht nett von Ihnen. Diese engagierten Helfer, die jetzt, in der Not …
WOPRASCHAL (unterbricht): Wia i im Spital war, letztes Jahr, hab i s’ immer »Fräulein« grufen! (deklamiert) »Fräulein!« hab i gsagt, »Ich bräuchte noch ein bisserl ein Wasser!« Des müssen S’ amal ausprobieren, wie denen des Gsicht einschlaft, wann ma s’ »Fräulein« nennt, des is a Hetz …
SCHEICHENBREIN (leicht verächtlich): Na, dann ist es eh besser, dass Sie daheim sind.
WOPRASCHAL: Ja, da kann i mi scho z’Mittag ansaufen und kana merkt ’s! Und die Nachbarn san alle schasfreundlich zu mir, weil ’s ja sein könnt, dass jetzt amal was brauchn, von mir. Aber die meiste Zeit seh i s’ eh net.
SCHEICHENBREIN: Sie gehen wohl selten aus dem Haus?
WOPRASCHAL: Hin und wieder, wenn mich die Umstände dazu zwingen … Aber des is seit ’m Virus a bessa wurn. Jetzt kräuln an die ganzen Ungustln net so auf ’n Leib wie früha. Ein Meter Mindestabstand! Und in da U-Bahn? Kein Vergleich, sag ich Ihnen! I brauch nur amal huastn und i hab des ganze Abteil für mi.
SCHEICHENBREIN: Ja, wie, Wopraschal, mir will scheinen, Ihnen ist diese Krise ganz recht.
WOPRASCHAL: Des kennen S’ laut sagn! Es gibt nix scheneres als a leere Straßn … Menschn, die auf d’ Seitn hupfn, wann ’s di sehn … die Gschroppn machen an Bogen um di …
SCHEICHENBREIN: Ich muss schon bitten, Wopraschal, lassen wir die Kinder aus dem Spiel. Sicher, es gibt distanzlose Menschen, da ist man froh, wenn die jetzt Abstand halten müssen. Aber gibt es denn gar nichts, was Sie aufgrund der Einschränkungen vermissen?
WOPRASCHAL: Doch! Sobald mei Tschecherl wieda aufsperrt, schlag i durt ein wia a Bombn!
SCHEICHENBREIN: Wirklich? Sie, Wopraschal? Aber da gerieten Sie doch erst recht in die Gesellschaft von Menschen.
WOPRASCHAL: Deswegen sauf i mi a scho vorher an!
SCHEICHENBREIN: Wopraschal, Sie sind mir ein Rätsel! Wovor fürchten Sie sich eigentlich? Sorgen Sie sich um Ihre Verwandten?
WOPRASCHAL: Machn Sie Witze? Die kennen mir gstohlen bleibn! Ich sage Ihnen, Ostern war ein Traum, dieses Jahr!
SCHEICHENBREIN: Ist es die Wirtschaftslage, die drohende Rezession?
WOPRASCHAL: Woher denn! I bin unkündbar!
SCHEICHENBREIN: Ja, aber was, Wopraschal, fürchten Sie dann?!
WOPRASCHAL: Dass bald vorbei is damit!

In memoriam Helmut Qualtinger und Gerhard Bronner.

© Tom F. Lange, 2020

Wir Coronauten. Logbuch-Eintrag Nr. 13

Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020

Tag 35: Die bestmögliche aller möglichen Welten

Am Vormittag des 1. November 1755, um 9. 40 h wurde die portugiesische Hauptstadt Lissabon von einem schweren Erdbeben getroffen; darauf folgende Brände und ein Tsunami zerstörten sie beinahe vollständig. Über 80% der Stadt lagen in Trümmern, die Zahl der Toten ist bis heute ungeklärt. Von den etwa 275.000 Einwohnern der Stadt starben mindestens 30.000, wenn nicht 100.000.
Dennoch war dieses Ereignis mehr als eine Naturkatastrophe, es erschütterte zugleich eine Weltanschauung: »Gott kann zwar alle möglichen Welten denken, aber doch nur die beste von ihnen wollen, denn mit seiner Vollkommenheit wäre es unverträglich, das weniger Vollkommene, oder wenn man will, das Böse zu tun. […] Er hat die beste aller Welten durch seine Weisheit erkannt, durch seine Güte erwählt und durch seine Macht verwirklicht.«[1] Der Leibnizsche Optimismus unterstützte die göttliche Weltordnung, für einen gläubigen Christen konnte – und durfte – es ohnehin keine andere geben.
Innerhalb dieses Denkens musste die Katastrophe als Strafe Gottes interpretiert werden. Zwingend, denn eine andere Erklärung, als Zufall etwa, wäre denkunmöglich gewesen. Aber wofür war Lissabon bestraft worden? Darauf wusste niemand eine Antwort. Selbst das lasterhafte Sodom, so lehrte es die Bibel, wäre verschont geblieben, wenn sich denn zehn Gottesfürchtige gefunden hätten. Im höchst katholischen Lissabon hatte man Schwierigkeiten, zehn Sünder aufzutreiben. Von der Aufrechterhaltung der göttlichen Weltordnung hing jedoch alles ab: Könige regierten von Gottes Gnaden; das Elend der Menschen war Gottes Wille, wenn auch beklagenswert, etc. »Die Vollkommenheit des Universums von einem einzigen Übel aus beurteilen zu wollen, hieße ein ganzes Gemälde von einem einzelnen Pinselstrich aus zu beurteilen,« notierte sogar die Lebensgefährtin Voltaires, Madame de Châtelet, zu dessen Ärger in ihren Institutions physiques.[2]
Die Ideen der »Herrschaft der Vernunft«, kurz Aufklärung genannt, waren zu diesem Zeitpunkt wohlbekannt. Diderots Enzyklopädie erschien erstmals 1752, Leibniz’ »Rechtfertigung Gottes« wurde eifrig diskutiert. Die Philosophen der Aufklärung stritten sich mit ihren Kollegen, mit Königen, Adeligen, Kirchenfürsten und Theologen; die große Masse der europäischen Bevölkerung berührte das freilich kaum. Das Erdbeben von Lissabon änderte alles. Die Nachricht hatte sich in der ganzen Welt verbreitet; plötzlich fragten sich auch Handwerker und Bauern, ob wirklich alles gottgewollt ist, was auf Erden passiert.
1759 erfolgte die Antwort, in Gestalt eines fiktiven, unerschütterlich optimistischen Metaphysikers, eines gewissen Dr. Pangloss. »Es ist erwiesen, dass die Dinge nicht anders sein können, als sie sind, denn da alles um eines Zwecks willen geschaffen ist, dient alles notwendigerweise dem besten Zweck. Bemerken Sie bitte, dass die Nasen geschaffen wurden, um Brillen zu tragen, so haben wir denn auch Brillen.«[3] Seine Gefährten, wie auch er selbst, werden in diesem Roman beraubt, gefoltert, unschuldig zum Tod verurteilt, gedemütigt und verprügelt – Dr. Pangloss hat damit kein Problem: Da wir in der bestmöglichen allen möglichen Welten leben, ist auch alles auf das Beste eingerichtet. Alles ist gut.
Das Erdbeben von Lissabon verhalf den Ideen der Aufklärung zu breiterer Wirksamkeit, es gab ihnen neuen Schwung, belebte die Diskussionen und inspirierte die Denker. Voltaires Candide oder Der Optimismus entlarvte Utopien und Heilslehren, nicht zuletzt den, der göttlichen Weltordnung zugrunde liegenden Zirkelschluss. Die Naturkatastrophe, der Zufall hatte die Welt verändert – ein Zufall wird sie vielleicht wieder verändern.
Der Markt regelt alles am besten, folglich ist die ökonomistische Welt, in der wir leben, die bestmögliche aller möglichen Welten. Haben wir wirklich Nasen, um Brillen zu tragen? Das Virus widerspricht. Es entlarvt den Zirkelschluss des Neoliberalismus. Der Markt regelt gar nichts. Überall dort, wo nach Herzenslust dereguliert, privatisiert und gewinnmaximiert wurde, trifft es die Menschen am schlimmsten. Aktienmärkte stürzen einfach ab, haben aber zugleich die Macht, nicht nur ihre Shareholder, sondern die ganze Welt in den Abgrund zu reissen.
Ist das die Herrschaft der Vernunft? Wenn ja, dann fürchte ich mich vor der Rückkehr in die »Normalität«. »Wir müssen unseren Garten bestellen«, heißt es am Ende von Candide.[4] Das wäre angebracht. Denn auch die Stadtväter von Lissabon waren letztendlich, nach wochenlanger Suche,  doch noch einiger »Ketzer« habhaft geworden, die sie öffentlich vorführen, foltern und verbrennen lassen konnten.

© Tom F. Lange, 2020


[1] Der Grundgedanke der Theozidee von Gottfried Wilhelm Leibniz. Aus Max von Boehn: Deutschland im 18. Jahrhundert. Band 2: Die Aufklärung. Askanischer Verlag, Berlin 1922,S. 23

[2] Georg Brandes. Voltaire. Erich Reiss Verlag, Berlin 1923, Band II, S. 179.

[3] Voltaire. Candide oder Der Optimismus. Diogenes Verlag, Zürich 1991, S. 8f.

[4] »Il faut cultiver notre jardin.« Voltaire. Candide. Letzter Satz.

Wir Coronauten. Logbuch-Eintrag Nr. 12

Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020

Tag 33: Maskenball

Meine Maske ist eines dieser weiß-blauen Dinger, die man beim Betreten des Supermarkts in die Hand gedrückt bekommt. Sie nervt mich. Wenn ich kurz nach unten blicke, auf den Einkaufszettel oder nur zu stark ausatme, beschlagen meine Brillengläser und ich stehe, auch dank meiner immer zotteliger werdenden Frisur, wie der letzte Vollidiot da. Ich lasse mir nicht bei jedem Einkauf eine Neue in die Hand drücken, denn ich setze mir sie lieber daheim, vor einem Spiegel auf. Wenn ich sie im Supermarkt anlege, verheddern sich meine Haare in den Schlaufen; streiche ich erstere hinter die Ohren zurück, fliegt mir die Maske vom Kopf … Zorro hatte nie solche Probleme.
Aber Zorro hatte seine eigene Maske, schwarzes Seidentuch höchstwahrscheinlich, mit Silberfaden, oder so … Es reicht, denke ich, ich schneidere mir meine eigene Maske!
Etwas zum ersten Mal machen, ist immer eine Form von Selbsterkenntnis. Ich lerne mich neu kennen: Nachdem ich Nadel und Faden dem schwerfälligen Dirigat meiner allzu dicken und plumpen Finger unterworfen habe, nähe ich munter drauflos. »Geduldsfaden«, den Begriff muss ein Schneider erfunden haben, grüble ich. Ich mag ihn nicht. Mein Lieblingsbegriff ist »Sättigungsbeilage«. Geduld hingegen habe ich nicht, und fad ist mir auch so schon genug. Aber die zweite Naht ist früher fertig als gedacht; ich kann zur weiteren Verarbeitung des Tuchs schreiten. Der Zuschnitt, den ich mir überlegt habe, offenbart mir, dass die Anfertigung der Nähte so gut wie sinnlos war, da sie sich vor allem auf den Teilen befinden, die sowieso der Schere zum Opfer fallen. Wie sagte Konfuzius: »Lernen und nicht denken ist nichtig. Denken und nicht lernen ist ermüdend.«[1] Ich atme tief durch. Die Theaterwissenschaft, geht es mir durch den Kopf, nennt das »die Komik der individuellen Tragödie«. Was soll’s, so schlimm ist das auch wieder nicht. »Schau,« sagt mir mein philosophisches Ich, »das Leben meint es doch gut mit dir – es hat dich nie dazu verleitet, Schneider werden zu wollen«.
Ich nähe noch eine Zeitlang weiter, dann gehe ich einkaufen. Auf der Straße sehe ich immer mehr individuell Maskierte: Hunde- und Katzenschnauzen sehen mich an, herausgestreckte Zungen, Smileys … Petronius fällt mir ein:

Fahrendes Volk gibt ein lustiges Spiel:
der eine ist Vater, Sohn der zweite;
als reich gibt sich ein anderer aus.
Kaum aber sind mit dem Stück
die komischen Rollen zu Ende,
fällt die Maske,
es kehrt wieder das wahre Gesicht.«[2]

Wer inszeniert sich da, wie und warum, frage ich mich unwillkürlich. Wahrscheinlich erträgt es das Menschlein nicht, gleichgemacht zu werden, seine Individualität oder Identität verbergen zu müssen. Ich übrigens auch nicht. Das bedeutet aber auch, dass mir diese herausgestreckten Zungen etwas sagen wollen, dass sie etwas über ihre Trägerin oder ihren Träger verraten: Der eine gibt sich lachlustig, die andere mag Katzen oder fühlt sich mit ihnen verbunden … Interessant, denke ich, dem »wahren Gesicht« waren solche Statements bisher kaum abzulesen. Jetzt tragen die Menschen einen Teil ihres Wesens, ihrer Wünsche oder Sehnsüchte offen vor sich her. Weil sie verbergen müssen, was sie zeigen wollen, zeigen sie, was bislang verborgen war. Ihre Masken entlarven sie.

© Tom F. Lange, 2020


[1] Kung Futse. Gespräche (Lun Yü). Buch II, 15. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1921.

[2] Petronius, Satyrica, 80,9. Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 1983, 5. Auflage 2004.

Satyrisch-satirische Betrachtungen einer Amphibie von schwacher Sehschärfe

Es war einmal ein Frosch. Der lebte an einem schlammigen Tümpel und betrachtete die Welt. Meistens musste er dabei – als der Laubfrosch, der er war – hoch nach oben schauen, aber das störte ihn nicht. Es war seine natürliche Perspektive. Schräg von unten blinzelte er nach oben – zuweilen in der Sicht behindert, durch Schilf, Schlammspritzer auf der Brille oder herumschwirrende Insekten. Der Frosch mit der Brille quakte gerne und er quakte viel, und da er nicht gestorben ist, quakt er noch heute: Immer dann, wenn etwas geschieht, das selbst in seinem Tümpel Wellen schlägt. Viel Spaß beim Lesen!

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