Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten.
Tag 47: Schädelfetzen
Mein Kopf ist leer. Als ich ihn aufforderte, eine Idee für den vorliegenden Logbuch-Eintrag zu entwickeln, passierte — nichts. Und seither deutlich weniger. Ein Astronaut, der in der Leere des Weltraums mit einem Schmetterlingsnetz auf die Jagd geht, sammelt mehr Substanz, als mein Geist momentan zu bieten hat. Sollte ich jemals auf die Idee verfallen, nach dem Staubsaugen den Boden zu fegen, wird das auf dem Kehrschauferl zusammengetragene Ergebnis immer noch gehaltvoller sein als das, was mein Verstand gerade hervorbringt. Ein nichtsigeres Nichts als das Nichts, das sich in meinem Kopf befindet, gibt es nicht. Die Leere ist so groß, dass sie nicht einmal mehr gähnen kann. Sie ist ein Nichts, dem nichts hinzuzufügen ist. Und sie ist widerwillig. Sie ist nicht nur nichts, sie will nichts sein. Winzige Fragmente von Gedanken wabern darin umher, verschlissen, ohne Zusammenhang. Treffen sie zufällig aufeinander, prallen sie, gleichsam entsetzt, voreinander zurück, wie ein frisch getrenntes Pärchen, das sich unversehens beim Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten über den Weg läuft. Aber dieses hätte sich mehr zu sagen als jene Fragmente. Sie flüchten, ihre Wortfetzen an sich raffend, in entgegengesetzte Richtungen, ohne beim anderen oder in der Leere die sie umgibt, die geringste Resonanz auszulösen, wissend, dass sie – die sie nichts sind – nichts werden können, dass sie nur die unnützen Reste bereits verarbeiteter Gedanken sind, nichtiger als die Schaumränder in einem geleerten Bierglas, als der Brösel eines Brösels eines Brösels, als der Darmwind einer überfressenen Raupe. So wenig sie selbst sind, sie wären vereint noch viel weniger. Denn sie entstammen nicht nur unterschiedlichen Denkwelten, sie sind oft nicht einmal aus der gleichen Galaxie. Kein noch so brillanter Verstand könnte sie jemals zu einem kohärenten Gedanken verbinden. Das wollen sie auch gar nicht. Sie kauern zitternd in ihren Ecken, den Kopf gesenkt, wie unvorbereitete Schüler an ihren Pulten. Zwischen ihnen befinden sich unüberwindbare Weiten kalter Leere in meinem Schädel; ein gigantisches, nicht respondierendes Vakuum; eine substanzlose, dennoch träge Ausdehnung, in die kein Blitz jemals einschlagen wird, geschweige denn, dass sie von selbst einen hervorbrächte; ein teigiges Nichts, das niemals aufgehen kann, da es nichts enthält. Mit anderen Worten: Es fällt mir nichts mehr ein.
Mein Coronauten-Logbuch und der hiermit fällige Eintrag stehen in einer Reiz-Losigkeit vor mir, die wahrlich erhaben ist, die alles, was mir auf dieser Welt jemals gänzlich reizlos erschienen ist, in ungeahnter Pracht erblühen lässt. Der Zeitpunkt, meine Wohnung zu putzen, ist gekommen.
Aber, wenn es nicht nötig ist, etwas zu tun, ist es nötig, es nicht zu tun, sagte einmal ein kluger Mensch. Wenn es also nicht möglich ist, etwas zu sagen, ist es möglich, nichts zu sagen! Die Alternative existiert. So wenig sie auch genutzt werden mag. Ich gebe hiermit kund und zu wissen, dass ich sie nutzen möchte. Lieber sage ich nichts, bevor ich nichtssagend werde. Tom F. Lange, over and out!
© Tom F. Lange, 2020
P.S.: Ich lege hiermit eine Pause ein. Das Coronauten-Logbuch wird mit voraussichtlich einem Beitrag pro Woche fortgesetzt werden, ab nächstem Freitag, 17 h. Tom F. Lange, im Mai 2020