Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020

Tag 28: Die Pest

Mein erster Deutschlehrer war ein alter Nazi. Das genügte ihm nicht, er war außerdem Sadist. Besonders hatte er es auf einen schmächtigen Buben in meiner Klasse abgesehen. Dieser war, wenn ich mich recht erinnere, armenischer Herkunft. Er hatte schwarze Haare und große, dunkle Augen und es war leicht, ihn zum Weinen zu bringen. Der alte Nazi musste ihn nur ein paar Minuten lang streng anstarren. Nachdem ich, der Zehnjährige, den »Herrn Professor« deswegen vor versammelter Klasse kritisiert hatte, wurden wir Feinde fürs Leben. Letzten Endes musste ich seinetwegen die Schule wechseln.
Mein zweiter Deutschlehrer war eine Lehrerin, und  – frustrierte Kommunistin. Sie hasste mich schon, bevor sie mich kannte. In der ersten Unterrichtsstunde stellte sie sich zunächst bei ihren neuen Schülern vor, unmittelbar danach befahl sie mir, aufzustehen. Bevor ich wusste wie mir geschah, bezeichnete sie mich als »Sohn aus reichem Hause, von dem sie jetzt schon wisse, dass er nur Probleme machen werde«. Setzen! Ich, der aufgrund meiner Erlebnisse nicht die geringste Lust auf Ärger hatte, war sprachlos. »Vom Regen in die Traufe«, dachte mir, oder eher – von der Gestapo ins Politbüro. Ihr Literaturverständnis war atemberaubend: Nur politische Literatur sei wahre Literatur; ein Werk, das keine politische Botschaft enthalte, keinerlei Deutung in diese Richtung zulasse, sei vollkommen wertlos. Punkt. Fürderhin lasen wir die gesammelten Werke Bertolt Brechts.
Literaturvermittlung lief bei ihr immer nach dem gleichen Schema ab. An erster Stelle stand ihre Einführung, in der sie unverhüllt klarmachte, wohin unsere interpretatorische Reise zu gehen hatte. Danach durften wir lesen und deuten. Es wäre leicht gewesen, ihr nach dem Maul zu reden. Auch die plumpeste ideologische Bauchpinselei wurde mit einem strahlenden Lächeln und guten Noten belohnt.  Darin unterschied sie sich gar nicht von ihrem Nazi-Vorgänger. Meinen Eindruck, dass ihr Liebling argumentativ eher zur Keule als zum Degen neige, teilte ich ihr mit; das machte unsere Beziehung nicht besser. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich es längst aufgegeben, mit dieser Frau in Frieden auskommen zu wollen. Ihre Ideologie teilte die Welt in Gut und Böse, dazwischen gab es nichts. Ich war ihr Klassenfeind, was sie mich bei jeder Gelegenheit spüren ließ, also schaltete ich auf Konfrontation.
Aber dann kam Die Pest. Ich, der längst unter akutem Brechtreiz litt, war begeistert. Albert Camus’ Werk erschien mir deutlich subtiler, als alles was Brecht jemals erschaffen hatte. Es gefiel mir sofort. Endlich einmal eine Geschichte, die auf mehreren Ebenen funktioniert. Als »freien« Lesestoff konnte ich es in meinen Deutsch-Gulag einschleusen, meine Präsentation schrieb sich von selbst: Metapher auf den Totalitarismus, beispielsweise auf den zur Abfassungszeit gerade überwundenen Nationalsozialismus, aber gleichermaßen auf kommunistische Regime anwendbar. Jedoch, man kann sie, wenn man das will, auch »unpolitisch« lesen, als präzises und spannendes Drama über den Ausbruch und die Bekämpfung einer Epidemie. Der Text erlaube es. Als ich diese Gedanken vor ihr ausbreitete, brach die Hölle aus: Das mit den kommunistischen Regimen sei die Geisteshaltung, die sie von einem Kapitalistensöhnchen erwartet habe, aber man müsse schon geistig beschränkt sein, um Die Pest so zu interpretieren wie ich! Deutungsebenen, Schwachsinn! Die ganze Welt erkenne die Nazizeit – und nichts anderes!– in diesem Buch! Ob ich kleines Nichts mich gegen die ganze Welt stellen wolle?! …
Die Geschichte ist über vierzig Jahre her. Vor zwei Tagen erinnerte ich mich lächelnd an sie. Denn Die Pest von Albert Camus kann man derzeit online, in Form einer Marathonlesung des Theaters im Rabenhof erleben[1] – als relevantes Drama über den Ausbruch und die Bekämpfung einer Epidemie.

© Tom F. Lange, 2020


[1] Mehr dazu: https://www.rabenhoftheater.com/die-pest/ und https://fm4.orf.at/stories/3000956/. 11.4.2020