Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – dienstags, freitags und sonntags, um 17h erscheinen werden. Tom F. Lange, im April 2020
Tag 19: Ich bin selber infiziert
Vor Jahren begab ich mich an einem Sommertag wieder einmal in den Wiener Volksgarten. Kaum hatte ich es mir auf einer Wiese bequem gemacht, stand schon ein Parkwächter vor mir und forderte mich auf, die Wiese zu verlassen. Ich fragte ihn nach dem Grund dafür, bisher wäre das doch erlaubt gewesen. Bisher. Der Parkwächter gab mir Bescheid: Unbekannte Besucher hatten kürzlich ein Lagerfeuer auf einer der Wiesen entzündet, nach Einbruch der Dämmerung, unter Verwendung mehrerer Sträucher als Brennstoff … Abgesehen von dem Brandloch in der Wiese hinterließen sie ihren Müll, klaffende Lücken in den Rosenbeeten und die – dank ihrer Intervention – für den restlichen Sommer bestehende Sperre der Rasenflächen. Auch damals hatte die unbeteiligte Mehrheit die Folgen des Fehlverhaltens einer Minderheit zu ertragen.
Es wurde mir von verschiedenen Seiten nahegelegt, doch an die Vernunft der Menschen zu appellieren. Das halte ich für sinnlos. Wenn solche »Unvernünftige« durch die Kraft der Vernunft zu überzeugen wären, dann wären sie ja vernünftig – und dann bräuchten sie meine Belehrungen nicht. Da sie es aber nicht sind, könnte ich ebensogut mit der Wand sprechen. Was also tun? Die Kyniker, antike Bettelphilosophen, lehrten ihre Schüler, zunächst die Marmorstatuen auf dem Marktplatz anzubetteln. Denn auch das, sagte Diogenes von Sinope, ist irgendwie eine gute Übung. Du wirst nämlich Menschen begegnen, die gefühlloser sind als Statuen.[1]
Eigentlich müssten sich alle Menschen wünschen, dass diese Krise möglichst bald zu Ende geht. Das wird aber nur möglich sein, wenn jeder einzelne verantwortlich handelt. Eigentlich. Ein Freund schrieb mir neulich: »Ich war entsetzt, beispielsweise nur, als ich vorgestern ein paar Schritte in der frischen Luft machen wollte – und eines kunterbunten, lebhaften Markttreibens vornehmlich ›alternativer‹ Selbstoptimierer und Bobos in unserer Gasse gewahr werden mußte.« Ähnlich dicht – nur weniger boboesk – menschelt es derzeit auf einem Wiener Traditionsmarkt, an dem ich in letzter Zeit öfter vorbeifahre.
Wollen kann man nicht lernen,[2] meinte der Philosoph Seneca dazu. Diogenes wiederum empfahl, man müsse sein eigener Lehrer sein, indem man alles, was man an anderen auszusetzen hat, vor allem an sich selber aussetzt.[3] Die antike Philosophie war freilich keine Massenveranstaltung. Sie war anspruchsvoll. Nur absolute Herrscher und absolute Trottel galten als frei, alles zu tun, was sie wollten.[4] Aber sie appellierte an den freien Willen des Menschen. Anders das entstehende Christentum: Es hat etliche Leitsätze der antiken Philosophen dankend eingemeindet, seine Lehre jedoch mit einem zusätzlichen, gänzlich unphilosophischen Fangnetz abgesichert: Wenn Du gut bist, belohnt Dich Gott, wenn Du böse bist, bestraft er Dich. Die Philosophen lachten darüber nur. Das sei geradezu kindisch, etwas für einfältige Gemüter, wo doch jeder wisse, dass der Lohn der guten Tat in ihr selbst liege. Durch Versprechungen oder Geschenke erkaufte Tugend sei ebensowenig wert wie durch Drohungen oder Angst erzwungenes Wohlverhalten. Damit hatten sie natürlich recht. Sie waren sehr vernünftig. Ein paar Jahrhunderte später war die »kindische Lehre« Staatsreligion im Römischen Reich; die Philosophie als Erzieherin zur Sittlichkeit zur Seite gedrängt worden. Wer böse ist, bekommt glühende Eisen sonstwo hineingeschoben; wer gut ist, erlangt ewige Glückseligkeit. Das kapiert jeder. Das praktizierte Christentum machte aus jenen Menschen, die weniger zu Hirten als vielmehr zu Schafe taugen, Kinder (Gottes) – und behandelte sie auch so.
Das ist die eine Möglichkeit. All jene, die sich angesichts der Lage weiterhin beratungsresistent verhalten wollen (Stichwort: »Mir san eh alle g’sund!«), werden – mangels Alternative – als die »Kinder«, die sie sind, behandelt werden müssen: Sei brav, dann darfst Du bald wieder spielen gehen. Sei schlimm, und Du wirst bestraft …
Die andere Möglichkeit hat der genannte Freund von mir präzise in eine lebbare Form gehoben: »Ich verhalte mich in allem so, als ob ich selber infiziert wäre. Auf diese Weise, meine ich, schütze ich meine Mitmenschen am besten. Und nur wer seine Mitmenschen schützt, schützt auch sich selber am wirksamsten.«
© Tom F. Lange, 2020
[1] Diogenes von Sinope. Ep. 11 = G. 541. Aus: Die Weisheit der Hunde. Georg Luck 1997. S. 175 f.
[2] Lucius Annaeus Seneca. Briefe an Lucillius, 81,13.
[3] Diogenes von Sinope. Stob. 3,1,55 = G. 384. Aus: Die Weisheit der Hunde. Georg Luck 1997. S. 164.
[4] Vgl. Lucius Annaeus Seneca. Apocolocyntosis oder Die Verkürbissung des Kaisers Claudius, 1,1: »… jener …, der das Sprichwort wahr werden ließ, dass man zum König oder zum Trottel bereits geboren sein müsse.«
Vielen Dank für diese wunderbare Betrachtung! – Die kynische Übung, der ich mich heute hingab, zeitigt bei mir bereits jetzt den schönsten Nutzen: Wenn schon nicht Kleingeld, so doch Trost und reiche Zuversicht spenden mir die beiden, in Stein gehauenen Löwen, die auf den prächtigen Hintern des Rosses blicken, auf dem Prinz Eugen, der edle Ritter, Streitkraft schlechthin verkörpert (auf dem Heldenplatz in Wien). Ein Ausbund an Empathie: diese beiden Löwen!
Mit viel Feingefühl, Humor und Scharfsinn formuliert, eine wunderbare Mischung von Texten, die nicht nur mitunter die Fantasie anregen sondern auch zum Nachdenken animieren. Gerade auch in der heutigen Zeit eine sehr willkommene Unterhaltung, die mir oft aus der Seele spricht und allgegenwärtige Gedanken in einen schönen Rahmen fasst.