Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen, aktuellen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – alle zwei, spätestens drei Tage erscheinen sollen. Tom F. Lange, im März 2020
P.S.: Bis auf weiteres erscheinen die Beiträge jeweils dienstags, freitags und sonntags, um 17h.

Tag 9: Ich habe keine Jogginghose

Ich hatte eine, es muss gut zwanzig Jahre her sein: Ein Markenartikel, immerhin, wenn auch, gemäß der Philosophie des Labels, in einem souverän verunglückten Grau gehalten, und deshalb mehr auf dem Brunnenmarkt als auf der Freyung daheim. Sie war schlabbrig, sie war häßlich, sie war gut. Mit meinen immer spärlicher werdenden sportlichen Aktivitäten versank sie immer tiefer in den Abgründen meines Kleiderschranks, unbeachtet, unberührt, mit jeder Faser ihrer Existenz dem Vergessen preisgegeben. Vor etlichen Jahren zerrte ich sie wieder hervor, zwecks Entsorgung mit anderen Kleidungsstücken und stellte irritiert fest, dass auch Textilmotten Geschmack haben können. Die Hose war so gut wie neu! Manches andere – zeitlos elegante – hatten die geflügelten Gourmets gerne angenommen, das vorliegende Proleten-Beinkleid hingegen keines Bisses gewürdigt. »Lest’s ihr die Vogue oder was ist mit euch, Mistviecher, versnobte«, entfuhr es mir empört und verfluchte sie noch ein Weilchen auf das Herzhafteste. Danach schickte ich meine ungeliebte (zu wenig geliebte?) Hose auf den Weg alles Altkleiderlichen und dachte nie wieder an sie.
Bis zum heutigen Tag. Jetzt, da erzwungenes Daheimbleiben und Arbeiten im Home-Office allgegenwärtig geworden sind, feiert auch die Jogginghose fröhliche Urständ’. Zumindest sagen mir das die Medien: Das oft geschmähte Freizeitaccessoire werde zum Alltagsgewand, las ich neulich, etwaige dienstrechtliche Bekleidungsvorschriften begrenze der Monitor von selbst; der (krisenbedingte) Siegeszug der Jogginghose sei nicht mehr aufzuhalten.[1] Ah so?
Nur auf den ersten Blick nichts damit zu tun hat, dass der Physiker Peter Higgs vor sechsundfünfzig Jahren die Theorie formulierte, im Standardmodell der Elementarteilchenphysik müsse ein weiteres, bislang unentdecktes Teilchen vorhanden sein, mit klar definierten Eigenschaften – das sogenannte Higgs-Boson. Der Beweis für diese Theorie konnte jahrzehntelang nicht erbracht werden, da der leistungsstarke Teilchenbeschleuniger, der für den Nachweis dieses Bosons nötig war, erst gebaut werden musste. 2008 ging der Large Hadron Collider (LHC) des europäischen Forschungszentrums CERN in Betrieb; im Juli 2012 gelang der erste Nachweis des Higgs-Bosons, weitere Versuche im LHC bestätigten seine Existenz. Higgs erhielt den Nobelpreis, und – damit komme ich auf den Punkt – aus seinem Postulat wurde ein Bestandteil der uns umgebenden Wirklichkeit.
Dieser Tage darf, sofern den Medien zu trauen ist, ein anderer, leider schon verstorbener Visionär seinen Platz an der Seite von Peter Higgs einnehmen: Karl Lagerfeld, seines Zeichens Modeschöpfer und Publizist von Theorien zur Ästhetik. Vor beinahe acht Jahren, am 19. 4. 2012 formulierte er sein berühmtestes Postulat[2] (das ich aus Respekt vor dem Allgemeinwissen meiner Leserschaft in die Fußnote verbanne); seit Montag, dem 16. 3. 2020 ist es Bestandteil der uns umgebenden Wirklichkeit: Wir haben die Kontrolle über unser Leben verloren. Wir tragen Jogginghose. Auch wenn wir keine haben …

© Tom F. Lange, 2020


[1] DER LETZTE SCHREI. Mode für zu Hause: Rein in die Jogginghose! derstandard.at. Anne Feldkamp, 19. März 2020, 08:00. https://www.derstandard.at/story/2000115714499/mode-fuer-zu-hause-eine-wuerdigung-der-jogginghose
[2] »Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.« Karl Lagerfeld, 19. 4. 2012, Talkshow Markus Lanz, ZDF.