Der Frosch mit der Brille hat mich aufgefordert, für einige Zeit seinen Platz einzunehmen, da, wie er sagte, der Frosch zu schweigen hat, wenn der Mensch gefragt ist. Ich werde seinem Ansinnen, so gut es geht, Folge leisten. Mit kurzen, aktuellen Beiträgen, die – solange ich das schaffe – alle zwei, spätestens drei Tage erscheinen sollen. Tom F. Lange, im März 2020

Tag 7: Mein Corona

Mein Corona ist die Stille, die plötzlich lastend geworden ist. Sie hat mich früher nie gestört. Das Schreiben ist ein einsames Geschäft, für mich zumindest. Ich kann weder in Gesellschaft, noch mit irgendeiner Hintergrundberieselung schreiben, insofern hat sich für mich nicht viel geändert. Natürlich bin ich ab und zu ausgegangen, habe Freunde getroffen, aber ansonsten war ich mir, oder vielmehr war mir meine Welt, in die ich mich schreibend begeben konnte, genug. Jetzt ertappe ich mich dabei, belanglose Textnachrichten zu versenden, offensichtlich – so peinlich das ist – in der Hoffnung auf Antwort. Wahrscheinlich bin ich doch lieber ein glückliches Schwein als ein unzufriedener Sokrates.[1]
Mein Corona ist eine freundliche Supermarktkassiererin. Sie sitzt im Ground Zero aller unserer, mit jedem Tag stärker werdenden Unzulänglichkeiten und Neurosen. Sie lächelt. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, meistert höflich und gelassen jede noch so absurde Situation. Sie ist der Kompass für mein Gemüt.
Mein Corona ist eine Schlange, vor der ich wie eine Maus hocke. Ich könnte mich mit allem Möglichen beschäftigen, aber es fällt mir unendlich schwer, mich darauf zu konzentrieren.
Mein Corona sind Auslagen, die ich neuerdings betrachte. Ab und zu muss ich spazieren gehen, um den Lagerkoller, so gut es eben geht, hinauszuschieben. Aber so trivial oder wenig relevant der Inhalt dieser Auslagen für mich auch sein mag (neulich erwischte ich mich vor einem Laden für orthopädische Produkte …) – irgendein Reiz ist mir derzeit immer noch lieber als gar keiner.
Mein Corona ist eine alte Frau, die auf der Straße vor mir zurückweicht. Ich hatte, in einer sicheren Entfernung von wenigstens drei Metern, nur einen Schritt in ihre Richtung gesetzt, das hatte genügt, um sie zu erschrecken. Achtsam zu sein ist gar nicht so einfach. Man muss die Ängste und Nöte der Anderen mit-antizipieren.
Mein Corona ist ein geschenkter Schokokuchen. Ich habe ihn von meiner Mutter erhalten, noch warm, weil ich für sie einkaufen gegangen bin. Auf dem Hinweg war ich ein Sohn, der eine Pflicht zu erfüllen hatte, am Rückweg ein Bub mit Schokolade.

© Tom F. Lange, 2020

P.S.: Der nächste Beitrag erscheint am 24.3.2020., um 17h.


[1] »Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr.« John Stuart Mill, Utilitarismus, 1863, Kapitel 2.