Daß es allerdings im Leben nichts Angenehmeres gibt als sich mit dem zu beschäftigen was einem persönlich am Herzen liegt, […] das dürfte wohl einem jeden einleuchten.  Aber du mußt auch bedenken, daß ein jeder von uns nicht bloß für sich selbst geboren ist, […]

Platon,  Neunter Brief.[1]

Neulich fand in unserem Tümpel eine Volksabstimmung statt, die von einem äußerst eloquenten Frosch namens Schwarzbraungefleckt durchgesetzt worden war. Sein politischer Gegner, Rotgrüngestreift, war mindestens ebenso eloquent und hatte ihm bei mehreren Gelegenheiten jegliche Fähigkeit zu einigermaßen logischen Denken abgesprochen, ihn sogar einmal als vulgären Proleten verspottet. Bei einer besonders hitzigen Debatte rief Rotgrüngestreift empört aus: »Da können Sie doch gleich behaupten, dass zwei und zwei fünf ist!« Schwarzbraungefleckt sagte daraufhin: »Wissen Sie was? Genau das werde ich tun!« Er initiierte eine Volksabstimmung darüber, wieviel 2 + 2 ist und sammelte fleißig Unterstützungserklärungen dafür, dass 2 + 2 in Zukunft 5 sein sollte. Das gelang ihm auch, denn er überzeugte die Leute davon, dass es gar nicht um den Inhalt der Abstimmung gehe, sondern nur darum, diesen arroganten Eliten einen Denkzettel zu verpassen. Rotgrüngestreift und seine Anhänger sahen sich ohne eigenes Zutun in das Lager der Vernunft versetzt, sie meinten daher, ihren Wahlkampf ohne Nachdruck betreiben zu können: »Aufgeklärte Frösche müssten schließlich wissen, wie in dieser Frage zu entscheiden wäre.« Dabei übersahen sie vollkommen, dass sie mit derartigen Aussagen exakt jener Überheblichkeit das Wort redeten, die sie schon etliche Sympathien gekostet hatte, und, dass sie in der Vergangenheit selbst so manchen unvernünftigen Standpunkt vertreten hatten. Es versteht sich von selbst, dass Mathematiker in der Diskussion überhaupt nicht zu Wort kamen. Die meisten in unserem Tümpel sahen der Abstimmung eher mit Amüsement als mit Sorge entgegen, die Wahlbeteiligung war entsprechend niedrig. Nichts bereitete uns auf den Schock am nächsten Morgen vor, als die Stimmzettel ausgezählt waren und das Ergebnis vorlag: 2 + 2 = 5! Das war Gesetz geworden, mit einer Mehrheit von 50,9 % zu 49,1 % der gültigen Stimmen. Das Chaos brach im Tümpel aus. Der Finanzminister schoß sich bei der Lektüre der Morgenzeitung eine Kugel durch den Kopf, Banken und Versicherungen stellten ihren Geschäftsbetrieb ein, auf den Märkten und in den Läden wurde nur noch gestritten. Die Gewerkschaften verkündeten, dass der Acht-Stundentag neu geregelt werden müsse, da nunmehr nach den ersten zwei plus zwei Stunden bereits fünf Stunden verstrichen wären, nach den zweiten vier Stunden ebenfalls, also müssten von acht Stunden Arbeit zwei abgezogen werden. Die Arbeitgeber antworteten, das Gegenteil sei der Fall. Da zwei plus zwei Stunden Arbeitszeit nunmehr fünf Stunden ergebe, müsste in Hinkunft zehn Stunden lang gearbeitet werden.
Die Krise war da. Schwarzbraungefleckt erklärte alle Negativ-Schlagzeilen zu hetzerischer Falschmeldungen; Rotgrüngestreift bezeichnete ihn als narzisstischen Wahnsinnigen, der den Tümpel in den Untergang führe. Unser Tümpel war tief gespalten, ein Kompromiss musste her, die Frage war nur, wie? Schließlich wurde ein Tag bestimmt, an dem die Angelegenheit in einer öffentlichen Podiumsdiskussion gelöst werden sollte. Ein Moderator wurde ausgewählt, zu meinen Entsetzen verfiel man dabei auf mich!

Mit pochendem Herzen nahm ich meinen Platz zwischen den Kontrahenten ein, die mich mißtrauisch beäugten. Ich hatte mir meine Einleitung gründlich überlegt und wandte mich zunächst an den Frosch zu meiner Rechten:
»Herr Schwarzbraungefleckt, leben wir Ihrer Meinung nach in einer Gemeinschaft?«
»Ja, wie? Warum fragen Sie mich das? Selbstverständlich! In einer Gemeinschaft von mündigen Fröschen, die das Recht haben, …«
»Bitte zu diesem Zeitpunkt noch keine politischen Kommentare! Herr Rotgrüngestreift, die Frage an Sie: Leben wir in einer Gemeinschaft?«
»Ich finde das vortrefflich, wie Sie meinen Gegner gleich in Bedrängnis gebracht haben, er und seinesgleichen sind es ja schließlich gewesen …«
»Bitte antworten Sie auf meine Frage.«
»Ja, natürlich, wir leben in einer Gemeinschaft.«
»Gut. Ich habe mir zur Vorbereitung auf dieses Gespräch, – dessen Zweck ja die Lösung der aktuellen Krise ist, – ich bitte Sie beide, das nicht zu vergessen, – jedenfalls, ich habe mir Ciceros Text De officiis, was gerne mit »Vom pflichtgemäßen Handeln« übersetzt wird, durchgelesen. Es ist, zugegeben, eine etwas sperrige Lektüre, Cicero versucht über hunderte Seiten, die Idee des pflichtgemäßen Handelns näher zu definieren, und daraus einen Leitfaden für ein »richtiges« Handeln zu entwickeln. Wie lebe ich meinen Pflichten gemäß? Welchen Konflikte begegne ich dabei? Daher meine Frage an Sie: Sie beide haben durchaus rechtmäßig gehandelt, aber glauben Sie, dass sie pflichtgemäß gehandelt haben?«
Meine Gesprächspartner glotzten mich konsterniert an, Rotgrüngestreift antwortete: »Tut mir leid, ich verstehe die Frage nicht.« Sein Kontrahent meinte: »Geht mir genauso.«
»Pardon. Worauf ich hinauswill, ist das folgende: Angesichts der offensichtlichen Erosion des alltäglichen Sozialverhaltens und angesichts einer Gesellschaft, die sich selbstverliebt gegenseitig attestiert, dass »eh alles erlaubt ist«, was nicht explizit verboten ist, frage ich mich, ob die derzeitige Krise nicht eine gewisse Pflichtvergessenheit zur Ursache hat; eine Pflichtvergessenheit, die wohlgemerkt nicht nur Sie, sondern uns alle betrifft.«
»Wenn Sie damit auf die niedrige Wahlbeteiligung anspielen wollen …« tönte es zu meiner Rechten.
»42%! Das nennen Sie repräsentativ!« kam es von links zurück. »Und was ist mit den Fanatikern aus Ihrem Lager, die nachdem entschieden war, dass 2 + 2 jetzt 5 sein muss,  alle Autos in Brand gesetzt haben, die kein fünftes Rad sichtbar mit sich führten? Ist das der Wille Ihres Volkes?«
»Ich distanziere mich selbstverständlich vollinhaltlich von jeglichen Gewaltakten, aber ich verstehe das Anliegen der rechtschaffenen Frösche in unserem Tümpel, die ein Gesetz angewendet sehen wollen.«
»Meine Herren, bitte! Sie haben mir beide vorhin zugestimmt, dass wir in einer Gemeinschaft leben. Für Cicero waren Pflichten eine Selbstverständlichkeit, er fragte erst gar nicht, ob der Frosch denn Pflichten habe. Aber es setzte auch jegliche Pflicht in den Zusammenhang mit einer Gemeinschaft. Daraus lässt sich folgern: Der fernab jeglicher Gemeinschaft lebende Frosch, der Einsiedler, hat keine Pflichten, es sei denn, er erlegt sich selbst welche auf. Alle anderen, die in einem Miteinander leben, sei das mit der Familie, mit Arbeitskollegen oder mit der Gesellschaft insgesamt, haben dieser Gemeinschaft gegenüber gewisse Pflichten. Das kann die Erledigung des Abwasches in einer WG sein, aber auch der höfliche Umgang mit Andersdenkenden.«
»Was ist denn das für ein kranker Scheiß?« brach es aus Rotgrüngestreift heraus. »Das geht ja gar nicht! Jeder hat das Recht, alles zu tun, was er will! Individuelle Lebensführung ist unser höchstes Gut! Fröschin und Frosch sind frei, Alter! »Just do it!« Keiner bestimmt die Grenzen, an die du dich zu halten hast. Du machst dein eigenes Ding[2].«
»Deine Freiheit«, erwiderte ich gelassen, »endet an der Nasenspitze deines Mitfrosches.[3] Das hat bereits in der Antike ein Richter einem Raufbold geantwortet, der seine Attacken mit persönlichen Freiheitsrechten begründen wollte. Und ich rede nicht von einer Rückkehr in reaktionäre, autoritäre Zeiten. Ich sehe uns vielmehr am Endpunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung stehen, die mit notwendigen Reformen begonnen hat. 1968 etwa revoltierte man gegen eine arrogierte Autorität des Staates und seine »Respektspersonen«, gegen aufoktroyierte Pflichten, die sachlich nicht mehr zu begründen waren. Heute revoltiert man, meiner Ansicht nach, gegen fundamentale Pflichten, ohne die eine Gemeinschaft nicht bestehen kann. Die Parolen der ’68-Bewegung waren die Befreiung aus Zwängen, das Einfordern von Individualität und Selbstverwirklichung. Der Kampf um die Rechte des Frosches hat selbstverständlich schon viel früher begonnen, aber seit ’68 leben wir kontinuierlich in der »Predigt des Individualismus«, die, für sich betrachtet, durchaus segensreich war. Wir erlebten das Schwinden des Obrigkeitsdenkens, der Hörigkeit gegenüber Autoritäten, sowie ein immer stärkeres Selbstbewusstsein von zuvor unterdrückten Gruppierungen, wie etwa Arbeitern, Frauen und Kindern. Nur wurde, meiner Meinung nach, im Zuge dessen immer mehr verdrängt, dass Freiheit Verantwortung bedeutet. Jedes Recht, das sich der Frosch  oder die Fröschin erkämpft hat, ist ein Stück Gestaltungsfreiheit. Die Pflicht, die mit dieser Gestaltungsfreiheit mitübertragen wird, ist der verantwortungsvolle Umgang damit. Wenn mir die Gemeinschaft das Recht auf demokratische Wahlen ermöglicht, dann überträgt sie mir damit die Verantwortung für die Zukunft des Tümpels.«
»Genau!« Schwarzbraungefleckt konnte nicht länger an sich halten. »Diese linkslinken Phantasien einer totalbefreiten Gesellschaft müssen im Kein erstickt werden. Der fleissige, anständige Bürger toleriert weder Schmarotzertum noch Nestbeschmutzung. Deswegen kämpfen wir für das freie Mandat des mündigen Frosches. Das Volk hat immer Recht![4]«
»Na bestens! Zu meiner Linken höre ich »Mach dein Ding«, jeder soll schlicht alles machen dürfen, was ihm oder ihr beliebt; zu meiner Rechten, dass das Volk jede zivilisatorische Errungenschaft, die sich die Frösche über die Jahrhunderte erkämpft haben, aus einer Laune heraus zunichte machen darf. Denn es ist ja mit einer Unfehlbarkeit ausgestattet, die nicht einmal der Papst für sich beansprucht. Ich frage Sie also beide noch einmal: Glauben Sie, pflichtgemäß gehandelt zu haben?«
»Also, ich verstehe nicht, warum Sie mich da jetzt so anpatzen. Der kleine Frosch im Schilf erwartet von mir, dass ich unseren Tümpel gegen die pseudointellektuellen Hirngespinste rotgrüner Eliten verteidige.«
»Das haben Sie ja mit ihrem Referendum bewiesen, Kollege! Wenn wir schon von Pflichten reden. Und was Sie betrifft, Herr Frosch mit der Brille, von Ihnen lass ich mir keine Schuld in die Schuhe schieben. Ich bin nur mir selbst und meinen Überzeugungen verpflichtet und sonst niemandem!«
»Ach, ist das so? Sie haben mich beide noch immer nicht verstanden! Nicht nur Sie und ihre Anhänger haben ihre fundamentalen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft ignoriert, indem Sie einen kleinlichen Parteienstreit zum Nachteil unseres Tümpels ausgetragen haben, sondern wir alle! Der Ausgang dieses Referendums zeigt ja, dass wir zwar unser Recht zu wählen wahrgenommen haben, unsere damit verbundene Pflicht hingegen nicht. Jedes Recht bedingt eine Pflicht. Diese Pflicht ergibt sich aus der Gemeinschaft, in der ich lebe. Mein Recht auf freie Meinungsäußerung bedeutet nicht, dass ich jeden nach Lust und Laune beleidigen darf, sondern beinhaltet die Pflicht, mich den Umständen angemessen auszudrücken. Mein Recht auf individuelle Lebensführung ist keine Blanko-Vollmacht, sondern beinhaltet die Pflicht, anderen damit nicht zu schaden. Mein Recht auf Leben in einer Gemeinschaft beinhaltet die Pflicht, auf das Gemeinschaftswohl zu achten. Gemeinschaften entwickeln sich zwar durch die Zuerkennung von Rechten, sie entstehen aber durch die Übernahme von Pflichten. Auch unter Steinzeitfröschen musste zunächst einer das Feuer und ein anderer den Höhleneingang bewachen, bevor gefahrlos darüber diskutiert werden konnte, wer wie lange Wachdienst zu schieben hat. Die Gemeinschaft bestimmt die Grenzen, an die du dich zu halten hast, es sei denn, du willst außerhalb derselben leben. Dieser Grundsatz wird jedoch nicht mehr respektiert. Das beweist am deutlichsten die neue Sekte der Staatsverweigerer, deren Anhänger nicht länger Subjekte des Staates sein möchten, aber dennoch in ihm leben wollen. Radikaler kann man die Arrogierung von Rechten bei gleichzeitiger Missachtung jeglicher Pflicht nicht in die Tat umsetzen.«
»Sie und ihre antiquierten Wertvorstellungen«, entgegnete mir Rotgrüngestreift aufgebracht, »ich kann es nicht mehr hören. Welcher Vollpfosten hat Sie eigentlich zum Moderator ernannt?! Wann reden wir endlich von dem bösen Spiel, das Schwarzbraungefleckt und Konsorten mit unserem Tümpel getrieben haben?
»Dafür bin ich nicht zuständig. Ich bin hier, um die verbindenden Elemente in diesem Konflikt aufzuspüren, nicht die trennenden.«
»Und welche wären das, Herr Lehrer?«, erschallte es sarkastisch von rechts.
»Unsere Schwächen, die uns auch dann noch aneinander ketten, wenn wir nichts mehr gemeinsam haben. Irren ist froschlich. Das, was Sie und – ich betone – uns alle miteinander verbindet, ist, dass wir, in unserem verständlichen und auch berechtigten Streben nach persönlicher Freiheit, möglicherweise einen Fehler begangen haben.«
»Ja! Ja! Hören Sie das, Schwarzbraungefleckt! Wobei, das war kein Fehler, das war ein Verbrechen!«
»Ach, tatsächlich? Falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Das Volk hat gesprochen!«
»Herr Rotgrüngestreift! Herr Schwarzbraungefleckt! Wäre es denn möglich, dass wie die Niederungen dieses Konflikts einen Moment lang verlassen können, um ihn auf einer höheren Ebene zu betrachten?!«
Meine Gesprächspartner grummelten widerwillig Einverständnis, ich ergriff eilends das Wort: »Danke. Worauf ich hinauswill, ist, dass richtiges Handeln nicht immer angenehm ist, ja, es fordert den Frosch sogar auf, sich einem Diktat zu unterwerfen, – freilich einem, dem man sich meiner Ansicht nach willig unterwerfen könnte.«
»Diktat!«, wurde ich umgehend von links unterbrochen. »Was soll denn das schon wieder. Sowas kostet aufgeklärte Fröschinnen und Frösche doch nur noch einen Lacher! Sag’ mir, du kleiner Möchtegern-Diktator, wem oder was hätte wir uns denn zu unterwerfen, wenn’s nach dir ginge?«
»Dem Diktat der Vernunft. Deswegen bin ich hier. Um dafür zu sorgen, dass Sie beide an die Konsequenzen Ihres Handelns denken, und nicht immer nur an sich selbst.«
»Vernunft, ja, sicher!« tönte es von rechts, »Mein Gegenüber ist doch nicht einmal imstande, eine nach direkt-demokratischen Spielregeln erlittene Niederlage einzugestehen! Aber in einem gebe ich ihm recht: Ihre unangebrachten Belehrungen hängen mir auch schon zum Hals heraus. Sagen Sie, Herr Oberg’scheit, was wäre denn Ihr – ach, so vernünftiger – Vorschlag zur Lösung unseres Problems?«
»Nur wenn lauter Glatzköpfe am Tisch sitzen, findet keiner ein Haar in der Suppe«,[5] erwiderte ich. »In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Sie beide, die Suppe, die ich Ihnen auftische, als Glatzköpfe betrachten: Sie, deren Fraktionen im Parlament gemeinsam eine satte Mehrheit haben, hätten die Möglichkeit, den Ausgang des Referendums für nicht bindend zu erklären und das Gesetz zu annullieren. Damit wäre die Krise vorerst beendet, und man könnte in Ruhe debattieren, was weiter geschehen soll.«
Rotgrüngestreift sprang empört hoch: »Das werden Sie nicht erleben, dass ich mit diesem Rattenfänger paktiere! Die Suppe hat er sich selber eingebrockt, die muss er allein auslöffeln!«
Schwarzbraungefleckt hielt es auch nicht länger in seinem Sessel aus: »Was?! Ich soll den Volkswillen missachten?! Im stillen Kämmerlein mauscheln?! Niemals! Das freie Votum des mündigen Frosches ist unantastbar, 5 bleibt 5!!!«
»Ach, halt doch deine Fresse, Schmissgesicht!«
»Gusch, Multikulti-Kummerl!«
»Meine Herren! Bitte!«, warf ich verzweifelt ein, »Sind Sie denn wirklich nur zum Streiten hergekommen? Ich appelliere an Ihr Verantwortungsgefühl, an Ihren gesunden Froschverstand, …«
Da blickte der Frosch zu meiner Linken dem Frosch zu meiner Rechten fest in die Augen und sprach: »Ich glaub’, der hat uns jetzt oft genug verantwortungslos und deppert g’nannt. Wie sehen Sie das, Kollege?«
»Und glatzert dazu! Hau’ man aus’n G’wand!«

Sie schüttelten sich die Hand, ich flüchtete mit knapper Not und ging ins Exil in den Wald. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben,[6] dachte ich, während ich meine Wunden pflegte. Die »Predigt des Gemeinschaftswohls« war in unserem Tümpel zu lange nicht mehr gehört worden, sie wurde nur noch als Affront verstanden. Individualismus und Selbstverwirklichung waren zur knallharten Durchsetzung von Partikularinteressen pervetiert worden, ob nun auf persönlicher, regionaler oder staatlicher Ebene. Jeder macht sein Ding. Me first!

© Tom F. Lange, 2018


[1] Platons Briefe, 9, 357 St. 3 D – 358 St. 3 A. Übersetzung: Apelt 1922.
[2] Beto O’Rourke. Demokratischer Kandidat des Bundesstaates Texas bei den »Midterm-Elections« 2018. Quelle: www.derstandard.at. 21.10.2018, 8:00 h: Ex-Punkrocker Beto O’Rourke will Texas den Demokraten zurückgeben.
[3] Soquakes. Anthologia Ranarum, 12,7.
[4] Beliebter Spruch von Populisten, hauptsächlich aus dem rechten Lager: etwa der SVP (Schweizerische Volkspartei), www.republik.ch, 2.10.2018, https://www.republik.ch/2018/10/02/wie-recht-hat-das-volk; oder von Klaus Iohannis, anlässlich seiner Wahl zum Präsidenten Rumäniens, 2014. www.n-tv.de, 16.11.2014, https://www.n-tv.de/politik/Deutschstaemmiger-gewinnt-Rumaenien-Wahl-article13973011.html. Allerdings auch von Werner Faymann (SPÖ) in den Mund genommen: derstandard.at, 31.8.2011, 18:29h. https://derstandard.at/1314652679326/Das-Volk-hat-immer-recht
[5] Dionysios von Thessalonike. Epigramme, 5, 47.
[6] Angeblich von Michail Gorbatschwow, 1985 bis 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von 1990 bis 1991 Staatspräsident der Sowjetunion, dessen Reformen den maroden Staatenbund nicht mehr retten konnten.