Subsulto, ergo sum. 1

Nach meinem letzten Beitrag musste ich einige, teils derb formulierte Kritik hinunterschlucken, weil ich angeblich behauptet hätte, Frösche wären die besseren Philosophen. Das habe ich nicht gesagt, sondern nur, dass Frösche ein natürliches Talent für die Philosophie haben. Mag es auch müßig sein, jenen zu widersprechen, die das Wort nicht ehren, ich meine, es ist besser müßig zu sein, als nichts zu tun: 2 Spätestens seit Aristoteles sind die Wahrnehmungen als Voraussetzung für jegliche Erkenntnis anerkannt. Uns Frösche hat die Natur auf das großzügigste mit den entsprechenden Sinnesorganen ausgestattet. Man betrachte nur einmal unsere Augen! Wie groß sie sind, im Vergleich zu unserem Körper; wie weit sie hervorstehen! Welch prächtige Werkzeuge sie sind, mit denen wir das weite Rund unseres Tümpels auf einen Blick erfassen können. Ein Panorama-Blick, eine Symphonie visueller Eindrücke, die wir von allen Seiten auf uns einströmen lassen können, bevor wir von unserer Zunge oder unseren Schenkeln Gebrauch machen. Ich staune nach wie vor, zu welch atemberaubenden geistigen Sprüngen der Mensch imstande ist, trotz seiner winzigen, tiefliegenden Augen, mit denen er gerade das sehen kann, was direkt vor ihm liegt. Auch unser Gehör ist exzellent, aber bevor ich mich darin verliere, die Vorzüglichkeit aller Sinnesorgane der Frösche aufzuzählen, möchte ich lieber gleich von einem Sinn sprechen, den ich für besonders erwähnenswert halte – vom Tastsinn, vom Fühlen. Für Aristoteles war der Mensch, was das Fühlen betrifft, den Tieren weit überlegen. Deshalb, so führte er weiter aus, sei dieser auch das vernünftigste aller Lebewesen. So sehr ich Aristoteles schätze, seine Behauptung, Tiere hätten einen schwach ausgeprägten Tastsinn, ist falsch. Frösche, wie auch ihre Todfeinde, die Schlangen haben eine hochsensible Haut, die es ihnen ermöglicht, geringste Vibrationen im Wasser wahrzunehmen. Der Jäger fühlt seine Beute, die Beute ihren Jäger. Aber Aristoteles wäre nicht Aristoteles, wenn er diesem kleinen Irrtum nicht eine große Wahrheit folgen ließe. Er bekräftigt den Zusammenhang zwischen dem Fühlen und der Begabung zur Vernunft mit den Worten: Ein Zeichen dafür ist aber auch, dass beim Menschengeschlecht der Maßstab für Begabung und Nichtbegabung einzig und allein dieses Sinnesorgan [die Haut] ist und kein anderes. Denn die Menschen mit harter Haut sind intellektuell unbegabt, die mit weicher hingegen begabt.3
Wenn also weichhäutige Menschen begabter sind als harthäutige, wie begabt müssen dann Frösche sein, deren Haut doch um so vieles weicher ist, als die des weichhäutigsten Menschen?
Aber ich will, wie gesagt, ohnehin nicht behaupten, dass Frösche die besseren Philosophen sind. Es gibt nur einen Unterschied zwischen uns, der mich, was den Menschen betrifft, bedenklich stimmt. Heraklit hatte bereits darauf hingewiesen, als er sagte: Augen und Ohren sind die besseren Sinne, aber schlechte Zeugen, wenn die Seele unverständig ist.Einst wart ihr nicht so unverständig, einst, als wir noch mehr gemeinsam hatten, als die Welt aus Jägern und Gejagten bestanden hat. Die einen wollten fressen, die anderen nicht gefressen werden. Alles hüpft und keiner bleibt, wie er ist. 5 Der Frosch ist diesbezüglich in einer besonderen Position. Denn obwohl er die Beute vieler Arten ist, gibt es eine Art, die ihm zur Beute wird. Er ist Jäger und Gejagter. Er weiß, unter den fettesten Novemberfliegen wartet das Maul der Schlange. Er weiß, der Tod frisst die Gefräßigen, 6 das macht ihn wachsam und geistig rege. Seine Lebensart hat seinem Geist Sprunghaftigkeit und Esprit verliehen, sein Denken ist assoziativ und quicklebendig. He jumps to conclusions. Es ist sein Hüpfen, das ihn definiert. Der Mensch war auch einmal Jäger und Gejagter und hüpfte deshalb zu Verstandesleistungen, die ihn weit über alle anderen Lebewesen erhoben. Das ist lange her. Inzwischen ist er schläfrig geworden und unachtsam. Er lässt sich lieber von anderen etwas vorhüpfen, anstatt selbst zu hüpfen. Er ist faul geworden. Er hat sein Hüpfen verloren. Wäre er nicht der Herrscher der Welt, er wäre eine leichte Beute. Seinen Jagdinstinkt hat er noch, nur hat er sich längst alles erjagt, was er braucht und hüpft daher nur noch Dingen hinterher, die er nicht braucht. Wir Frösche hingegen sind nach wie vor auf dem Sprung, ein Auge auf dem schwirrenden, krabbelnden Leben, das andere auf dem staksenden, sich schlängelnden Tod. Deshalb sage ich dir, Mensch: Hüpfe! Lebe des Todes eingedenk! Dahin flieht die Stunde, die Zeit da ich rede, als erstes! 7

1 Ich hüpfe, also bin ich. Der Frosch mit der Brille, Jenseits von Tümpel und Storch, II, 3, 20.
2 Plinius, Epistulae, I, 9, 8.
3 Aristoteles, De anima, II, 9, 20 f.
4 Heraklit, DK 22 B 107.
5 Der Frosch mit der Brille, Die quakende Wissenschaft, I, 2, 24.
6 Der Frosch mit der Brille, Jenseits von Tümpel und Storch, III, 7, 16.
7 Persius, Saturae, 5, 153.

© Tom F. Lange, 2017